Nea Weissberg (Hg.): Halle ist überall (Karin Weimann)
Kommentar von Karin Weimann
Halle ist überall. Stimmen jüdischer Frauen. Ausgewählt und herausgegeben von Nea Weissberg. Fotos von Sharon Adler und anderen, Lichtig Verlag, 2020, 159 Seiten. Vorwort und Nachwort von Nea Weissberg.
Einbesonderer Dank von Nea Weissberg gilt Alexandra Jacobson, ihrem Engagement für Koordination und Korrektorat des Buches. Es ist Janina, der Tochter von Nea Weissberg, gewidmet.
Your silence will not protect you (Audre Lorde)[1]
Warum ein solches Buch? Warum in Deutschland? Der Anschlag auf die Synagoge in Halle am höchsten jüdischen Feiertag Yom Kippur. Am 9. Oktober 2019. In Deutschland.
Zwanzig Frauen. Jüdische Frauen. Ihre Geburtsjahrgänge umfassen die Zeitspanne von 1929, 1935, 1946, 1947, 1948, 1950, 1951, 1956, 1980 bis 1984. Drei Generationen. Die Orte ihrer Geburt bezeugen das ver-und getriebene Leben ihrer Eltern und Großeltern, Ergebnis von Verfolgung und Flucht vor den Deutschen und ihren HelfershelferInnen im Nationalsozialismus. Entwurzelung. Ihre Geburtsorte: Berlin (West). Dresden. München. Eltville am Rhein. Wien. Polen. Leningrad. Costa Rica. Israel. Ukraine. Kanada.Ihre Professionen: Verlegerin, Autorin, Gymnasiallehrerin. Kostümbildnerin. Gewandmeisterin. Musikpädagogin. Geschäftsführerin für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Literaturwissenschaftlerin. Publizistin. Journalistin. Redakteurin. Tänzerin, ausgebildet bei Mary Wigmann, Schauspielerin, Synchon-und Rundfunk-Sprecherin. Mitarbeiterin in karitativen Organisationen in Berlin und Tel Awiw. Betriebswirtin. Professorin für Volkswirtschaft. Unternehmerin. Englisch – und Theaterlehrerin. Referentin in der Heinrich- Böll-Stiftung, Koordianatorin des Kunst – und Kulturprogramms der Leo Baeck Foundation. Ökonomin und Betriebspädagogin. Sozialarbeiterin. Freie Regisseurin und Dozentin an staatlichen und privaten Schauspielschulen, Lyrikern. Gründerin des Frauen-Online-Magazins AWIWA Berlin.
Zwanzig jüdische Frauen. Zwei von ihnen mußten die deutschen Verbrechen erleiden, Halina Birenbaum, geb. 1929, sie eröffnet die Anthologie mit ihrem Gedicht „Saved-Gerettet, und Renate Aris, geb. 1935: „Ich sang die haTikwa, da waren meine israelischen Freunde noch nicht geboren“. Eine von ihnen, Luba Meyer, geb. 1985, hat als Beterin den Anschlag auf die Synagoge in Halle miterlebt: „Meiner Oma, Emilia Manjuk geb. Mussel gewidmet“.
Töchter von Überlebenden. Enkeltöchter. Gedichte von Halina Birenbaum und Eva Diamantstein. Fotos von Familienangehörigen. Zeugnisse von Verlusten geliebter Familienangehöriger. Fotos von jüdischen Kultgegenständen.
Die Gefühle der Autorinnen. Schmerz. Fassungslosigkeit. Nichtverstehen. Hilflosigkeit. Angst. Zorn. Protest. Bemühen um Verständigung. Gemeinsames und Trennendes. Religöse und Säkulare, dem Judentum und Israel verbunden. „… bewußt jüdisch zu sein, traditionell die Feiertage begehen und mich mit Israel verbunden zu fühlen“ – so beschreibt Maya Zehden, eine deutsche Jüdin, ihr Jüdischsein, ihren Weg in der Annahme, daß „ihn die Mehrheit der deutschen Juden in der Diaspora geht.“: „Im Auftrag – mein Jüdisch-Sein ist Einsatz für Israel“. Eine von ihnen, Daphna Rosenthal, wählt die Form eines fiktiven Briefes“: „Brief an einen Freund.“ Shalom! Die Zwillingsschwester der Herausgeberin und Autorin Nea Weissberg, Rachel Alfandari, führt ein langes Gespräch mit ihren beiden Töchtern Nelly und Julia. Zwei Generationen:„Unser jüdisches Leben und Zukunft in Deutschland.“
Alle Autorinnen berichten aus den Lebensgeschichten ihrer Eltern und Großeltern. Sie beschreiben ihre eigene Entwicklung, ihre Erfahrungen mit antisemitischen verbalen Angriffen in Schulen und anderen Lebensituationen. Einige Schreibende assoziieren den deutschen Progrom am 9. November 1938. In fast allen Texten kommt auf die eine oder andere Weise die ausgeprägte Verantwortung für die überlebenden Eltern zum Ausdruck. Unvergeßliche Erinnerungen an die Großeltern. Liebe und Dankbarkeit für die Bedeutung der Mütter im Leben der Autorinnen.
Im Vorwort beschreibt Nea Weissberg die Motivation, die sie veranlaßt habe, Stimmen jüdischer Frauen nach dem Synagogen-Anschlag zu sammeln und zu veröffentlichen. In Schreckenssituation wie dieser sei es hilfreich, sich miteinander zu verbinden. „Es wird Zeit, nicht bloß daran zu denken, sondern darüber zu schreiben.“ Ja! Volksverhetzender Hassbrief, zwei Hakenkreuze aus Zellstoff vor der Synagogen-Tür. Schutzmaßnahmen. Ein Skandal, daß jüdische Einrichtungen 75 Jahre nach der Beseitigung der nationalsozialistischen Gesellschaft durch die siegreichen Alliierten des Schutzes bedürfen. In Deutschland. Am Ende Worte des Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier. Wie immer bei solchen Anlässen sind sie eine Mischung aus Würdigung der „Aufarbeitung“ und Warnung vor „bösen Geistern“. Dank dieser „Aufarbeitung“ sei es vielen Deutschen seiner Generation möglich geworden, „Frieden mit dem eigenen Land zu machen“. Das war und ist ein Fehler. Frieden für wen? Frieden mit wem? Ich mache keinen Frieden mit einem Land, in dem Antisemitismus und Rassismus in widerlicher Weise in Wort und Tat sich mehren. Lernen aus der Geschichte? Schön wär’s.
Unter der Überschrift „Welche Zeitgeschichten erinnern wir?“ verknüpft Nea Weissberg zwei deutsche, wichtige Erinnerungstage: 9. November 1938, der Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung. „Als man Juden alles, sogar das Leben raubte“ – ein Tag der Schande mit dem 9. November 1989, Tag der sog. Wiedervereinigung. Für die deutsche Mehrheitsgesellschaft ein Tag der Freude. Im Gegensatz zum 9. November 1938, der im Bewußtsein der Mehrheitsgesellschaft wenig bis keine Nachhaltigkeit erfährt. Im Gegenteil. Dieser Schandtag erinnert an das, was von der Mehrheit nicht erinnert werden will. Es muß doch mal Schluß sein. „Ist es die wiedervereinte Mehrheit der Deutschen leid, an die „Reichskristallnacht“ erinnert zu werden?“, fragt Nea Weissberg. Ja! Sie ist es leid. Und ja, der 9. November 1938 ist ein wichtiges Datum in der „deutsch-jüdischen Zeitgeschichte“, in der „Geschichte der Erinnerungskultur“, die auch eine Geschichte der Erinnerungsabwehr darstellt. In den „mahnenden“ Worten von Helmut Schmidt am 9. November 1978 findet sich die übliche Mixtur aus Klage, Anklage, Verurteilung verbunden mit dem beruhigenden Hinweis „ …die heute lebenden Deutschen sind als Personen zu allermeist unschuldig“. Dreiundreißig Jahre nach der Befreiung Deutschlands. Im Jahr 1978 leben noch viele der einstigen VolksgenossInnen und mit ihnen ihre Tatschuld. Redeschuld. Schweigeschuld. Denunziationschuld.. Bereicherungsschuld. Jubelschuld. Unterlassungschuld. Eine „völkische“ Politik und Gesellschaft können den über viele Jahrhunderte währenden christlichen Antijudaismus, den ihm folgende Antisemitismus, den rassistischen Antisemitismus, kulminierend im deutschen Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden, und den gegenwärtigen, verbreiteten Antisemitismus, verpackt als „Kritik an Israel“, das damit verbundene „Bild vom Juden“, den Selbstblick und den auf die eigenen Familien nach nur einigen Jahrzehnten nicht auflösen.
9. Mai 1945 – Tag der Befreiung. Die allseits gerühmte Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker anläßlich der Wiederkehr des 8. Mai im Jahr 1985 im deutschen Bundestag. Zum ersten Mal wagt ein hochrangiger politischer Repräsentant das Wort vom „Tag der Befreiung“. Nach vierzig Jahren! Und auch dies ist in seiner Rede zu lesen: „Die meisten Menschen hatten geglaubt, für die gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen…“ Worin, so ist zu fragen, bestand für die meisten Menschen die gute Sache des eigenen Landes? Und: „Am Anfang der Gewaltherrschaft hatte der abgrundtiefe Haß Hitlers gegen unsere jüdischen Mitmenschen gestanden. Hitler hat ihn nie vor dem deutschen Volk verschwiegen, sondern das ganze Volk zum Instrument seines Hasses gemacht.“ Abgrundtiefer Haß eines einzelnen und Instrumentalisierung eines „ganzen Volkes“ führten zur „Endlösung der Judenfrage“. Das nenne ich eine beruhigende Exkulpation.
Die politische Analyse der beiden Erinnerungstage ergänzt Nea Weissberg durch kurze Abschnitte über die „vielschichtige Bedeutung der Mauer aus Beton“, „mißglückte Entnazifizierurng“ – welch ein Unwort! – „linke antizionistische Antisemiten“. In diese politischen Verknüpfungen ist das Schicksal der polnischstämmigen Eltern- und Großeltern-Familie von Nea Weissberg eingegraben. Wie in allen Beiträgen, so auch in diesem. Ich kann keine Zeile lesen, ohne nicht gleichfalls zu verknüpfen. Mit meiner Biografie als Nachgeborene der deutschen Verbrechen.
Zwanzig jüdische Frauen. Sie alle eint die Sorge, ja, die Angst angesichts der nie verschwundenen, seit einigen Jahren aber beunruhigenden Anwachsens antisemitischer Ressentiments in Worten und Taten. Beunruhigt angesichts ihrer Zukunft und der ihrer Kinder und Kindeskinder. In Deutschland.
Zwanzig Frauen. Zwanzig Schicksale. Zwanzig verschiedene Temperamente. Zwanzig verschiedene Biografien. Geeint in ihrem Leben als Jüdinnen in Deutschland.
Im Rahmen der Würdigung des wichtigen und leider notwendigen Buches gelingt es mir nicht, sie alle gleichermaßen zu würdigen. Die Überschriften, die die Autorinnen ihren Beiträgen geben, weisen Wege: „Auf schwankendem Boden“ von Alexandra Jacobson. „Braucht der Dialog eine andere Dimension? Resümee nach Halle und nach Hanau“ von Rebekka Nieten. „Mein 9. November“ von Elvira Grözinger. „Nie wieder“ ist nicht genug“ von Jutta Prajs „In der Ukraine hatte ich Angst um meine Kinder, in Deutschland habe ich Angst um meine Enkel“ von Mira Bondar. „Ich habe keine Angst. Sollte ich?“ von Annie Karolinski-Doning. „Empfinden Sie Hass? von Romina Wiegemann. „Mutig sein, stark bleiben“ von Claudia Münz. „Helfen – mein Erbe und Lebensauftrag“ von Eva Nickel. „Zeitsprünge“ von Eva Diamantstein. „Denk’ ich an Halle in der Nacht“ von Sharon Adler. Dank an Halina Birenbaum für ihre beiden Gedichte „Saved – Gerettet“ und „Corona“. Dank an Eva Diamantstein für ihre beiden Gedichte „Wusstet Ihr nicht“ und „Das Land, in dem ich lebe, speit mich aus“.
Ich habe dieses Buch „Halle ist überall“ in großer Anteilnahme gelesen. In Sorge. In Zorn. In Empörung. „Bin ich schockiert? Ja… Bin ich überrascht? Nein…“, fragt und antwortet Eva Diamantstein. Sie ist schockiert auch über Hanau und den Mord an Walter Lübcke. Sie schläft schlecht, wenn sie an Deutschland denkt. Sie fürchtet sich nicht. Den MenschenfeindInnen räumt sie keine Macht über sich ein. Zorn und Gegenwehr, ja. Auch ich bin schockiert und nicht überrascht. Zorn und Gegenwehr. Halle in Deutschland im Jahr 2020. Im Zug 2007 eine Zufallsbekanntschaft. Ihr schöner Name Diamantstein. Trostwunsch des Mitreisenden: „Oh, das macht nichts.“ Mit-Gift. Ja, nomen est omen. In Deutschland. Der Beitrag von Eva Diamantstein “Zeitsprünge“ ist für mich in seiner literarischen Verdichtung der erlittenen deutschen Verbrechen mit der Zeit „danach“ von besonderer Eindrücklichkeit. Halle ist überall.
Ich danke allen Autorinnen und der Herausgeberin Nea Weissberg.
[1] Nelly Alfandari, S.133.