Demokratie weiterentwickeln
Demokratieförderndes Werteverständnis
Entscheidend ist: Können wir das, was wir für unsere Werte, unsere hochgestellten Ziele halten, als begrenzt ansehen? Als unsere Werte, die damit aber nicht unbedingt auch die der anderen sein müssen?
Wenn wir die Einsicht zulassen in die Werte-Orientierung auch der anderen Seite, gewinnen wir zuvor unerreichbare Perspektiven für ein lebendiges Zusammenleben auf Augenhöhe – eine wirklich demokratische Grundhaltung im Alltag von Familie und Beruf!
Natürlich gibt es Grenzen dieser Haltung.
Widersprüche aushalten
Es ist von einem Widerstreit oder sogar von verschiedenen Widerstreiten zwischen unterschiedlichen Loyalitäten, divergierenden Werte-Orientierungen schon innerhalb ein und derselben Person auszugehen. Um wie viel mehr in einer Gesellschaft und dann noch international.
Solche Widerstreite gibt es häufig schon im ganz alltäglichen Leben von Familie und Partnerschaft. Nur werden diese unterschiellichen Werte-Einstellungen oft nicht als solche erkannt. Dann toben stattdessen heftige Konflikte „im Außen“. Das mag zunächst unvermeidlich sein, aber auf die Dauer geht es darum, Lösungen zu finden – immer von Neuem.
Politische wie individuelle Entscheidungen sind oft vor dem Hintergrund widersprüchlicher, gegenläufiger Interessen zu treffen. Das Ringen darum ist nicht leicht – aber es führt in der Regel zu besseren Lösungen.
Böses überwinden
Ein entscheidendes Unterscheidungskriterium zwischen Gutem und Bösem liegt darin, ob Werte verabsolutiert, bestimmte Ziele aus dem Kosmos der Ziele herausisoliert und einseitig für vorrangig erklärt werden. Hier liegt der Übergang von Konflikt und Streit auf der einen Seite und Bösem auf der anderen, der Übergang von Idealen zu gewaltträchtigen Ideologien. Diese nicht wirklich auflösbare inhaltliche Nähe von Bösem und Gutem ist allerdings oft schwer ertragbar. Gerade deshalb liegt das „Kerngeschäft“ von Demokratie darin, immer wieder neu die Gleichgewichte zwischen den verschiedenen Werten auszutarieren.
So lange Demokratie prinzipiell gleichberechtigte Auseinandersetzungen zwischen solchen hoch gestellten Zielen zulässt und fördert, sei es in der Gesellschaft, der Arbeitswelt oder der Familie, dient sie den Belangen von uns einzelnen Menschen und schützt uns einigermaßen vor der Entwicklung von Bösem.
Demokratie ist doch die Organisationsform des öffentlichen Lebens, die zentral geprägt ist von Auseinandersetzung und Reflexion, vom Arbeiten mit Widerständen und Konflikten. Zur Demokratie gehört das Aushalten von Widersprüchen, das Leben von Widersprüchlichkeit und eine Praxis des Widersprechens, gegenüber anderen, gegenüber Autoritäten, aber durchaus auch sich selbst gegenüber. Nur so findet wirklich „demokratisches Geschehen“ statt. Und dessen Essenz weiterzugeben an die nachfolgenden Generationen, das ist „Wertevermittlung“.
Selbstreflexion
Gerade hier kann die untergründige Befürchtung unter aufrecht demokratischen Bürgerinnen und Bürgern groß sein, bei Entdeckung solcher Tendenzen, etwa aufgrund von einschlägigen Freud’schen Fehlleistungen, sozusagen als „nazihaft“ dazustehen. Das wäre aber ein völlig schiefes Verständnis. Es geht nicht um einen „Nazi in uns“, sondern darum, sich auch mal kritisch anzuschauen und dabei vielleicht Tendenzen zu entdecken, die nicht “völlig demokratisch” sein mögen und die vielleicht auch etwas mit damals zu tun haben.
Sich widersetzen
Ein Beispiel aus eigener Erfahrung, entnommen unserem Buch Dialog statt Trauma, S. 258-260.
Im Schülerforum der Montessori-Schule Wertingen wurde am 19. Februar 2003 ein denkwürdiger Beschluss gefasst: „Wir wollen eine Friedensdemonstration veranstalten.“ Das war aus Angst und Sorge wegen des drohenden Kriegs im Irak.
Zuvor schon hatten die beiden Schülersprecher:innen einen Brief an den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder geschrieben und ihm mitgeteilt, dass sie hofften, dass er bei seinem NEIN zum Krieg im Irak blieb. Anfang April 2003 erhielten sie eine lange Antwort.
Anrufe bei Polizei und Landratsamt zur Anmeldung der Demonstration, bei der Feuerwehr, beim Bürgermeister und bei den Pfarrern der beiden Konfessionen, all das nahmen die Klassenräte in die Hand.
Dieses Vorhaben hat offensichtlich viele gute Energien mobilisiert, solidarische Gefühle entstehen lassen. Die Aussage eines Bürgers: „In Wertingen hat es noch nie eine Demonstration gegeben – und es wird auch in Zukunft keine geben“ hat sich nicht bewahrheitet. Im Gegenteil: Mit viel Phantasie und Ideenreichtum wurde, zum Teil aus weißen Betttüchern, eine Menge an Transparenten hergestellt und alles im Schülerrat durchorganisiert. Ein Schülersprecher hat dann den Ablauf der Demonstration gekonnt moderiert.
Nach dem Lied „We shall overcome“ wandte sich die Schülersprecherin an die Versammlung:
„Wir Schüler der Montessorischule Wertingen möchten mit Ihnen ein Zeichen setzen, dass Krieg niemals in der Geschichte der Menschheit eine Lösung war und sein wird. Im Klassenratstreffen haben wir uns mit dem Thema beschäftigt und haben auch ein Schülerforum dazu gemacht. Ich fordere nun alle Politiker auf: Gebt dem Frieden eine Chance!“Zwei Schülerinnen trugen per Megaphon ein Referat zum Verlauf des Irak-Konflikts vor und führten Argumente gegen einen Krieg aus. Eine weitere Sprecherin aus der gemischten Klasse 8/9 schilderte ihre persönliche Meinung zu der Situation:
„Liebe Schülerinnen, liebe Schüler, liebe Erwachsene. Mir kommt die Situation in der Welt, speziell der Irakkonflikt, vor wie eine Situation im Kindergarten. Ich meine, man lernt doch dort schon, dass man Probleme nicht mit Gewalt lösen kann! In der Montessori-Schule haben wir Streitschlichter oder besprechen Probleme im Kreis.
Wenn man überall auf der Welt so ein System mit Streitschlichtern aufbauen würde, müsste kein Krieg mehr geführt werden, und es wäre friedlicher auf der Erde. Außerdem würden keine Soldaten oder unschuldige Menschen sterben. Ich fordere alle Politiker auf: Gebt dem Frieden eine Chance!“
Auch der Bürgermeister der Stadt Wertingen, Willi Lehmeier, meldete sich zu Wort und pries den Mut der Schüler, offen für den Frieden einzustehen: „Toll, dass im kleinen Wertingen ein Signal gesetzt wird!“
Die Pfarrer regten an, den christlich-islamischen Dialog zu verstärken, nur so sei Versöhnung möglich.
In Wertingen gab es anschließend viele Gespräche, nachdem die Presse ausführlich berichtet hatte. Die Erwachsenen waren berührt von der solidarischen Haltung der Schülerinnen und Schüler zu den Menschen im Irak.
Diese Demonstration, an der sich auch zahlreiche Wertinger Bürgerinnen und Bürger, Eltern und Geschwister beteiligten, erfolgte vor dem Hintergrund der pädagogischen Konzeption der Maria Montessori. Sie hätte sich ganz sicher über diese Aktivität der Schüler:innen sehr gefreut, denn die Erziehung zum Frieden war ihr ein ganz starkes Anliegen.
Wenn man es Jugendlichen ermöglicht, entwickeln sie viele Aktivitäten mit anderen und für andere und überhaupt ein Gefühl für die Gesellschaft, ein Gefühl für Gerechtigkeit und soziale Beziehungen.
Den eigenen Weg suchen, sich Meinungen bilden, im Dialog sein, reflektieren und Ideen entwickeln – das ist auch im Bereich Schule möglich.
Dialoge
Der Zürcher Kinder- und Jugendpsychiater Heinz Stefan Herzka hat auf der Grundlage von Martin Bubers Philosophie dialogische Prinzipien ins Zentrum seiner Betrachtungsweise gestellt. Das fängt an bei unserer “Identität”, also bei etwas, das gemeinhin vor allem als Kern dessen verstanden wird, worin ich mich von anderen unterscheide, worin ich „ganz ich“ zu sein vermeine. Stattdessen lesen wir bei Herzka:
„Identität ist in dialogischer Sicht ein permanenter Prozess zwischen einander widersprechenden, sich gegenseitig ausschließenden und gleichzeitig einander vervollständigenden Bereichen. Dieses dialogische Denken, eine der wichtigsten Denkströmungen des zwanzigsten Jahrhunderts, bietet eine definierte Möglichkeit der Einbeziehung des jeweils Anderen sowie der Berücksichtigung von Differenzen und Widersprüchen in Wissenschaft und Praxis.“[1]
In diesem Sinne könnte in dem verbreiteten und zunächst so irrational, so selbstbezogen erscheinenden „Ich möchte endlich gesehen werden“ doch ein tiefer Sinn stecken. Es ist der Ruf nach einem Mehr an Dialog.
Verbundenheit
Das Leben in solchen Widerstreiten, auch wenn es in möglichst dialogischer Weise erfolgt, braucht zugleich etwas Haltendes, braucht so etwas wie Boden, braucht Verbindendes. Davon ist vieles erodiert.
Wir sind auf der Suche.
Ein wunderbares “Schlusswort”
Ans Ende seines Buches Die zerbrochene Wirklichkeit (S. 514) hat der Psychoanalytiker Léon Wurmser diese Sätze gestellt:
“Beläßt uns diese Grundsätzlichkeit, diese Unauflösbarkeit der Konfliktnatur des Menschen nicht in einem Zustand der Ungewißheit und der unheilbaren Spaltung?
Weshalb denn nicht? Sollen wir des Mutes ermangeln, diese innere Gegensätzlichkeit auszuhalten und den Widersprüchen in Erleben und Verständnis die Stirn zu bieten? Nur das Zusammengesetzte, Widersprüchliche ist wahr, lasen wir bei Lagerquist; einfach und einheitlich sind eigentlich bloß die Lüge und die Täuschung.”
[1] Herzka, Heinz Stefan (2005): Kinderverträglich denken und handeln. Vorträge und Stellungnahmen in Texten und Tondokumenten. Schwabe, Basel, S. 140