Abgründe des Dialogs
Zumindest im liberalen Teil der Gesellschaft wird Dialog auf jeden Fall für wünschenswert oder sogar selbstverständlich gehalten. “Natürlich sind wir um Dialog bemüht und suchen ihn ständig zu verbessern.”
Diese Sichtweise orientiert sich aber hauptsächlich am sprachbasierten Dialog. Was dabei oft übersehen wird, sind untergründig wirkende Faktoren. Wir nennen einige typische Situationen.
Widersprüchliches ausdrücken
Nach seiner Corona-Erkrankung war Jürgen noch mehrere Wochen körperlich und geistig geschwächt. Zu seinem Erstaunen merkte er dabei, wie schwer es ihm fiel, etwas komplexere Mails zu schreiben. Was nicht zum Ausdruck gebracht werden konnte, war etwa dieses: “Gerne würde ich mich mit Ihnen treffen, aber ich fühle mich nach meiner Erkrankung noch nicht wieder richtig gut. Deshalb würde ich lieber noch etwas warten. Doch wenn Ihnen diese Besprechung (sehr?) wichtig wäre, könnte ich trotzdem kommen.” Hier spielte wesentlich auch der Gedanke mit, wie diese Aussagen beim Adressaten ankämen. Würde er oder sie zuviel Rücksicht nehmen? Oder zuwenig? Würde sie oder er sich zurückgewiesen fühlen, die Botschaft der Mail als in Wirklichkeit vorhandenes Desinteresse interessieren? Desinteresse am Thema oder sogar an ihm oder ihr als Person? Dieses banale Beispiel beleuchtet schon, wieviel bereits im “normalen” Alltag an untergründigen Annahmen, Vorerfahrungen mitwirkt. Im Allgemeinen bemerken wir das kaum, doch hier, geschwächt von Krankheit, zeigte sich das Maß an Anstrengung, das dafür erforderlich ist. Ganz alltägliche Störungen des Dialogs sind das – aber jederzeit mit einem Potenzial zum Absturz.
“Nein heißt Nein”
Diese seit 2016 bestehende gesetzliche Regelung zum Umgang der Geschlechter ist sehr zu begrüßen. Jedenfalls als Grundlage. Aber wie sieht es jeweils im Detail aus? Wann und wie wird ein Nein mitgeteilt? Wie wird es von der anderen Seite aufgefasst? Wie wird wiederum diese Interpretation kommuniziert? Wieweit lässt sich über Sex sprechen? Verbal und / oder averbal? Für Person A und Person B? Was für Hintergründe sind wirksam, von den jeweils verinnerlichten Geschlechterrollen, sexuellem Begehren, Macht- oder Unterwerfungstendenzen, Verständigung über tatsächlich gewünschte oder nur angenommene Praktiken…? Kann hier Dialog allein auf der rationalen Ebene jemals ausreichen? Was aber dann?
Babys und Erwachsene
“Dialog fängt erst nach der Babyzeit an”, so ist immer wieder zu hören, auch von Fachleuten. Babys können ja nicht sprechen. René Spitz, Pionier der Dialogforschung in der menschlichen Entwicklung, hat angesichts dieser Fixierung aufs Rationale leicht resignativ gesagt:
“Um den Puristen unter meinen Lesern entgegenzukommen, bin ich bereit, diese Interaktion einen Vorläufer des Dialogs, eine archaische Form des Gesprächs zu nennen.“[1]
Allerdings meinen wir vom Dachau Institut, auf solch einen “Vorläufer” verzichten zu können. Vielmehr entwickelt sich in unserer Sicht Dialog kontinuierlich von den archaischsten „Formen des Gesprächs“ (bereits in der Schwangerschaft) bis hin zu seinen „höchsten“ Ausprägungen.
Gerade hier aber liegt die große Schwierigkeit. Die Kunst, diesen umfassenden Dialog zu leben, wird nicht in den Schulen gelehrt und an den Universitäten erst recht nicht. Wer das Glück hatte, mit Babys zu kommunizieren, weiß, dass unser “Schulwissen” hier nicht weit hilft. Es geht um eine ganz tiefe Form des Miteinanders, des Austauschs. Wird das nicht möglich, kann es zu dem kommen, was René Spitz einen “entgleisten Dialog” genant hat. Ans Ende seines bahnbrechenden Buches hat er diese Frage gestellt:
„Ist es möglich, dass wir vor einer chronischen Entgleisung des Dialogs beim Menschen stehen?“[2]
[1] René Spitz (1976): Vom Dialog. S. 16
[2] Ebda., S. 102
“Juden” und “Deutsche”
Schon diese Gegenüberstellung ist so unmöglich, dass allein dadurch Dialog von vornherein unter einen falschen Stern gerät. “Jüdische Deutsche” oder “Jüdische Amerikaner” auf der einen Seite und “Christliche Deutsche” auf der anderen, das würde passen. Aber beim vielgebrauchte “Juden und Deutsche” öffnen sich doch schon alle Abgründe der Geschichte. Jeder dann erfolgende Dialog ist davon belastet, ob man es nun bemerkt oder nicht.
Hier haben wir es am extremsten mit den Abgründen aus der Geschichte zu tun, wie sie aber auch sonst bis in die alltäglichsten Kontakte hineinwirken und sie mit der Gewalt von damals kontaminieren können.
Fazit
Wirklich Dialog zu leben heißt die Untergründe mit einzubeziehen, jedenfalls sie nicht systematisch auszuklammern. Das reicht von den averbalen Botschaften zwischen Babys und Erwachsenen bis zu den Abgründen aus individueller und kollektiver Geschichte. Andernfalls laufen “Einsprengsel” aus dem Beiseitegeschobenen als “Störfilm” mit und führen zu unklaren Konflikten, zu Zerwürfnissen und im Extremfall zu immer neuen Kriegen.