Kontinuitäten der NS-Gewalt – Warum bekommen Aiwanger und Co solch einen Zulauf?
Jürgen Müller-Hohagen, in: Informationen der Lagergemeinschaft Dachau e.V., Nr. 52/2024, S. 8
Die Ereignisse vom 7. und 8. Oktober 2023 haben mich tief verstört. Wie können Menschen anderen Menschen, Mitmenschen, so etwas antun? Diese beim Blick auf die NS-Verbrechen nicht aufzuhebende Frage, sie taucht jetzt wieder auf angesichts der entsetzlichen Untaten von Hamas-Kämpfern an fröhlich feiernden jungen Leuten und an Friedensaktivisten in israelischen Kibbuzim.
Das war das Eine, das ganz Schreckliche an diesem Wochenende. Das Zweite waren die Landtagswahlen in Bayern und Hessen mit ihrer großen Verschiebung nach rechts. Dabei die Frage: Wieso hat Hubert Aiwanger mit seinen Freien Wählern so verstärkten Zulauf erhalten offensichtlich nicht nur trotz des unsäglichen Flugblatts aus seiner Jugendzeit, sondern geradezu wegen dieses Pamphlets? Fehlt denn so vielen Menschen hierzulande das grundlegende Gefühl, dass solche Vernichtungsphantasien völlig untragbar sind? Wieso wurde es hingenommen oder sogar beklatscht, dass von ihm keine wirkliche Entschuldigung kam?
Und dann sind als Drittes die nach diesem Wochenende deutschlandweit folgenden „Ausbrüche“ politischer Gewalt zu nennen, die, so heißt es, vorher nicht zu ahnen waren. Zurzeit richten sie sich vor allem gegen jüdisches Leben hierzulande. Aber auch die muslimische Seite wird attackiert. Die furchtbaren Massaker der Hamas und die vorhersehbare und zynisch einkalkulierte militärische Reaktion Israels, sie führen zu Debatten und Taten in unserem Land, die verstören. Was haben eine hier lebende Muslima oder ein Jude plötzlich „verbrochen“?
Als jemand, der sich seit nunmehr vierzig Jahren mit seelischen und zwischenmenschlichen Folgen der NS-Zeit befasst, sage ich seit Langem: Es gibt in unserem Land Kontinuitäten der NS-Gewalt, von denen niemand etwas wissen will, die aber gerade dadurch wirksam sind – und das nicht nur bei ausgewiesenen Rechtsextremen. Über transgenerationale Weitergabe von Traumata wird mittlerweile allenthalben gesprochen. Die Gegenseite aber, nämlich die Gewalt, ohne die es diese Traumatisierungen nicht gegeben hätte, die wird ausgeklammert. Transgenerationale Übermittlung von Täterbezügen, solch eine Behauptung erntet Kopfschütteln.
Dabei müsste diese These für einen einigermaßen klardenkenden Menschen völlig logisch sein. Kinder in ihrer extremen Abhängigkeit nehmen unendlich viel von ihren Eltern und der weiteren Umgebung auf, dabei auch von deren dunklen, verborgenen Seiten. Und da sollten Täterbezüge auf wundersame Weise ausgeschlossen sein?
Der „Große Frieden mit den Tätern“ nach 1945, wie der Publizist Ralph Giordano es genannt hat, kommt hier zum Zuge. Bis heute. In unserer hochgelobten deutschen Erinnerungskultur fehlt es an einer entscheidenden Seite, nämlich an einer Kultur im Umgang mit der konkreten Täterschaft und Tatbeteiligung unserer Vorfahren.
Natürlich gibt es viele Hintergründe für die derzeitigen Hassäußerungen. Aber, so meine ich, untergründige Kontinuitäten aus der NS-Zeit haben einen erheblichen Anteil. Dabei scheint ein besonders wirksames „Relikt“ von damals in einer zwischenmenschlichen Bereitschaft zur Ungerührtheit gegenüber den Nächsten zu liegen, die damals systematisch „eingeübt“ wurde. Das war Ungerührtheit gegenüber dem „Verschwinden“ der jüdischen Nachbarn, von Sinti und Roma, von Linken, von vermeintlichen „Kriminellen“…
Von solcher Ungerührtheit ist heute wieder erschreckend viel zu erleben. Da sehe ich Kontinuitäten zu damals.