Eine sozialwissenschaftliche Erforschung

Kontinuitäten der Schuldabwehr – Soziale Arbeit als kritische Handlungswissenschaft im Kontext des kollektiven Erbes

Lara Finger

Diese wissenschaftliche Arbeit, erschienen 2022 als Master Thesis im sozialwissenschaftlichen Studiengang ‚Diversität und Inklusion‘ des Fachbereichs Soziale Arbeit und Gesundheit an der Frankfurt University of Applied Sciences, geht der Frage nach, inwiefern sich die Profession Soziale Arbeit vor ihrem Selbstentwurf einer kritischen Handlungswissenschaft im Kontext des kollektiven Erbes positioniert. Im Fokus der Erörterung steht dabei das Handlungsfeld der Hochschullehre, um zu ergründen, welche Auswirkungen etwaige tradierte Abwehrfunktionen von Lehrpersonen im Studium Sozialer Arbeit auf deren Lehrgestaltung haben. Weiterhin wird die Fragestellung beleuchtet, inwiefern die Entwicklung eines beruflichen Selbstverständnisses sowohl bei Lehrenden als auch bei Studierenden durch biografische Bezüge geprägt ist und insbesondere welchen Einfluss tradierte Abwehrmuster auf diesen Prozess der Identitätsbildung ausüben.

Für die Herleitung neuer Sinnzusammenhänge wurden hierzu drei Themenzentrierte qualitative Interviews mit Lehrpersonen im Studiengang Soziale Arbeit interpretativ ausgewertet und in einen theoretischen Kontext gebettet. Hierdurch konnten Interdependenzen in den Erinnerungspraxen von Gesellschaft und Sozialer Arbeit aufgezeigt werden, die nachfolgend skizziert werden. Aufgrund der pointierten Darstellung können die Ergebnisse weder umfangreich ausgeführt noch ein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden. Folgend werden lediglich die prägnantesten Kontinuitätslinien konstatiert[1]. Zu erwähnen sei, dass von circa 50 angefragten Professor:innen[2], die im Studiengang Soziale Arbeit Module zu Geschichte und Theorien Sozialer Arbeit, soziale Ungleichheit und Differenz, Rassismuskritische und Antisemitismuskritische Soziale Arbeit lehren, lediglich drei Professor:innen einer Interviewteilnahme zustimmten. Daraus lassen sich erste Hypothesen zum Umgang mit eben jenem untersuchten Themenkomplex herleiten, die in der Analyse Präsenz erfahren. 

Für die Auseinandersetzung mit TäterInnenschaft[3] in Gesellschaft und Sozialer Arbeit konnte aufgezeigt werden, dass sich diese vornehmlich unter Hinzuziehung von ahistorischen und sozialpsychologischen Erklärungen vollzieht. Deutungsmuster, die zur Erklärung von TäterInnenschaft herangezogen werden, bergen bereits diverse Abwehrmuster in sich[4]. Dominant ist hierbei die Konstruktion von TäterInnen zu einem Kollektiv, dem eine Autoritätshörigkeit attestiert wird. Die Absprache von autonomer Handlungsfähigkeit wird als Rechtfertigung von Handlungen unter dem Attest eines „Gruppenzwangs“ forciert. Externalisierung von TäterInnenschaft dominiert sowohl den gesamtgesellschaftlichen Umgang mit TäterInnenschaft als auch die Auseinandersetzung mit TäterInnenschaft in der Profession Sozialer Arbeit. Als gemeinsames Merkmal ließ sich außerdem identifizieren, dass aus allen Deutungsmustern die Wirkmächtigkeit antisemitischen Denkens der TäterInnen exkludiert wird[5].

Sowohl auf gesellschaftlicher, personeller, institutioneller und rechtlicher Ebene lassen sich Abwehrfunktionen in Bezug auf die Verstrickung in nationalsozialistische Verbrechen identifizieren. Im Kontext des allgemeinen Erinnerns der Bundesrepublik wird versucht eine politische Erinnerungspraxis zu etablieren, die einen verantwortungsvollen Umgang mit der NS-Vergangenheit forciert. Gleichzeitig ist diese Erinnerungspraxis versehen mit Kontinuitäten der Schuldabwehr, die sich nicht zuletzt aus den mangelhaften Entnazifizierungsprogrammen der Bundesrepublik ergeben[6]. Im Zusammenhang mit Entnazifizierungsprogrammen konnte statt einer differenzierten Auseinandersetzung mit TäterInnenschaft vielmehr das Ziel einer (Re-)integration von NS-TäterInnen in die Gesellschaft verzeichnet werden. Die Personalstruktur in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit war hiervon nicht ausgenommen[7].

Hinsichtlich der Tradierung von Abwehrfunktionen konnte dargelegt werden, dass sich die Weitergabe sowohl psychoanalytisch als auch kommunikativ gestaltet und maßgeblich die Geschichtsdeutung und das Geschichtsbewusstsein prägen[8]. Hervorzuheben ist, dass das Geschichtsbewusstsein den eigenen Umgang mit Ressentimentbildung und Vorurteilsstrukturen bedingt. Diese Erkenntnis ist für die Frage nach Auswirkungen von tradierten Abwehrfunktionen bei Lehrpersonen in Studiengängen der Sozialen Arbeit elementar, wenn bedacht wird, dass Sozialer Arbeit durch ihren Selbstentwurf als kritische Handlungswissenschaft ein bildungspolitischer Auftrag inhärent ist.  

Die Verknüpfung von Theoriebildung mit den Erzählungen der Interviewpartner:innen hat ergeben, dass sich psychoanalytische Weitergabeprozesse vornehmlich durch psychodynamische Beziehungsgestaltung und Introjektion vollzieht. Insbesondere die Beziehungsgestaltung zwischen dritter Generation und NS-Generation nimmt hierbei eine besondere Funktion ein[9]. Dieses Beziehungsverhältnis wird von Angehörigen der zweiten Generation oftmals idealisiert und Nachkommen in der dritten Generation wird die Aufgabe zuteil, gestörte Beziehungsdynamiken stellvertretend für die zweite Generation zu reparieren[10].

Auf der kommunikativen Ebene lassen sich insbesondere Abwehrmuster identifizieren, die sich durch ein (Ver)schweigen, sprachliche Chiffren sowie fiktionale Ausgestaltung von Familiengeschichten auszeichnen, welche vornehmlich von Heroisierungen und Opferkonstruktionen gezeichnet sind. Familienangehörige werden zu RetterInnen stilisiert und das Verhalten der Großeltern als gegensätzlich zu dem Anderer entworfen respektive antisemitische Denkmuster den Anderen zugeschrieben[11]. Hier lässt sich eine Parallele zur Auseinandersetzung mit TäterInnenschaft in der Profession Sozialer Arbeit aufzeigen. Im Kontext der Kontinuität von Schuldabwehr konnten zwei zentrale Abwehrmechanismen herausgearbeitet werden, die in der gesamtgesellschaftlichen Erinnerungspraxis auf allen Wirkungsebenen eine zentrale Rolle einnehmen: Die Konstruktion des Opfermythos und der sekundäre Antisemitismus.

Für die Soziale Arbeit konnte nachgewiesen werden, dass in Professionalisierungsdebatten Sozialer Arbeit Opferkonstruktionen reinszeniert werden, indem die Zeitspanne von 1933-1945 als Bruch in der beruflichen Qualifizierung bezeichnet und Soziale Arbeit zu einem ‚Rädchen im System‘ stilisiert wird[12]. Der sekundäre Antisemitismus, der auch als Schuldabwehr-Antisemitismus bezeichnet wird, zeichnet sich vornehmlich durch eben jene Abwehrfunktionen aus[13]. Antisemitismus wird in diesem Kontext auf die Jahre 1933-1945 datiert. Zentrale Elemente des sekundären Antisemitismus sind die Dethematisierung von Antisemitismus nach 1945, eine Dehumanisierung der Opfer, indem Opferbiografien unsichtbar gemacht werden sowie TäterIn-Opfer-Umkehr unter Hinzuziehung antisemitischer Narrative[14].

Die interpretative Auswertung der geführten Interviews zeigt, dass sich Dethematisierung von Antisemitismus und Externalisierung von TäterInnenschaft strukturell an Hochschulen reinszeniert, indem Themen wie Antisemitismus und kollektives Erbe nicht systematisch in den Curricula der Hochschullehre verankert sind, sondern abhängig von Eigeninitiative der Lehrpersonen Eingang in die Lehrgestaltung finden. Vor dem Hintergrund fehlender Reflexionsräume und Lehr-/Lernräumen wirken antisemitische Denkmuster weiterhin fort und werden in der sozialarbeiterischen Praxis reproduziert.

In der Auseinandersetzung mit Kontinuitäten in Abwehrfunktionen der Profession Sozialer Arbeit, ist die Analyse des Pädagogikverständnisses, auf welches sich Theoriebildungen und Konzeptionen Sozialer Arbeit stützen, unabdingbar. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass der nationalsozialistische Erziehungsbegriff deutliche Verbindungselemente zur geisteswissenschaftlichen Pädagogik aufzeigt, die als pädagogische Grundlage der Anfänge Sozialer Arbeit fungierte[15]. Diese Verbindung ist für die Bewertung der Rolle Sozialer Arbeit im Nationalsozialismus elementar, weil verdeutlicht werden kann, dass faschistische Ideologie schon vor 1933 dem pädagogischen Grundverständnis Sozialer Arbeit inhärent war und damit die Konstruktion Sozialer Arbeit als Opfer des nationalsozialistischen Regimes deutlich als Abwehrmuster bestimmt werden kann.

Eine zentrale Hypothese der Master-Thesis ist, dass persönliche biografische Anteile die Herausbildung einer beruflichen Identität beeinflussen. Daraus folgend wird angenommen, dass tradierte Abwehrfunktionen Auswirkungen auf die Herausbildung eines beruflichen Selbstverständnisses haben. Aus den interpretativen Analysen der Interviews unter Hinzuziehung der Theoriebildung zum kollektiven Gedächtnis[16] nach Maurice Halbwachs lassen sich folgende Sinnzusammenhänge generieren:

Erinnerungen werden in der Theoriebildung zum kollektiven Gedächtnis[17] nie nur individualpsychologisch verstanden. Sie formen sich vielmehr in Interaktion unter sozialen Rahmungen und kollektiven Zugehörigkeiten[18]. Erinnerungen tragen Rekonstruktionen von Vergangenheit in sich, die von einem gegenwärtigen Standpunkt aus reinszeniert werden. Dabei unterliegen sie immer Umgestaltungsprozessen. Es wird davon ausgegangen, dass sich Individuen immer in Erinnerungsgemeinschaften zusammenfinden, um gemeinsame Erinnerungskontexte zu schaffen. Die Rekonstruktion von Vergangenheit bestimmt darüber hinaus gegenwärtige Geschichtsdeutungen und den Umgang mit diesen sowie zukünftiges Handeln[19]. Daraus schließt sich, dass (Re)produktionen von Differenzlinien und die Herausbildung von Vorurteilsstrukturen maßgeblich von der Vergegenwärtigung von Vergangenheit innerhalb gemeinsamer Erinnerungskontexte abhängen.

Für den Entwurf einer Erinnerungsgemeinschaft, die im universitären Kontext ihren gemeinsamen Erinnerungskontext schafft, stelle ich die Vermutung an, dass Studierende mit einer Vorannahme von Sozialer Arbeit als ‚helfender Berufsgruppe‘ das Studium beginnen. Vergangenheitsvorstellung bezüglich Sozialer Arbeit klammern hierbei die nationalsozialistischen Verbrechen aus. Gleichzeitig wird angenommen, dass Abwehrmuster die innerfamiliäre Vergegenwärtigung (Interpretation und Deutung) von Vergangenheit autochthon deutscher Familien dominieren. Die individuellen Vorstellungen der Studierenden und Vergegenwärtigung von Vergangenheit werden im universitären Kontext erfüllt, indem Lehrende ein Bild von Sozialer Arbeit anbieten, die diese Vorstellungen bestätigen und den Selbstentwurf Sozialer Arbeit stabilisieren. Auf Seiten der Lehrenden werden ebenfalls eigene individuelle Vergangenheitsbildungen herangezogen, die sich nicht primär auf die Vorstellungen von Sozialer Arbeit beziehen müssen, sondern innerfamiliäre Geschichtsdeutungen betreffen können. Diese Geschichtsdeutungen werden Studierenden in gemeinsamen Gestaltungsprozessen und Interaktionen als Anleitungen für den Umgang mit Geschichte angeboten. Wenn diese Instruktionen für Studierende aufgrund eigener innerfamiliär tradierter Abwehrfunktionen anwendbar sind, wirken Kontinuitäten der Schuldabwehr fort. Darüber hinaus bildet die Erinnerungsgemeinschaft im universitären Kontext eine Plattform für Erinnerungspraktiken unterschiedlicher Erinnerungsgemeinschaften, die interdependent wirken. Die Interdependenz wirkt sowohl in den Geschichtsdeutungen der Vergangenheit Sozialer Arbeit als auch in individuellen Geschichtsdeutungen, weshalb Akteur:innen in der gemeinsamen Erinnerungsgemeinschaft der Sozialen Arbeit ein kollektives Gedächtnis ausbilden, das Abwehrfunktionen auf verschiedenen Wirkungsebenen stabilisiert. Die Analyse der Interviews zeigt, dass Lehrende und Studierende mit jeweils individuellen Geschichtsdeutungen in eine kommunikative Aushandlung treten. Dort stabilisieren sich diese individuellen Vergangenheitsdeutungen gegenseitig und schaffen schließlich einen Erinnerungskontext, indem eine von Abwehrmustern dominierte Erinnerungspraxis etabliert wird, die sowohl das individuelle Selbstbild als auch das berufliche Selbstbild stabilisiert. Aus diesem Entwurf der Erinnerungsgemeinschaft im Hochschulkontext ergibt sich die Bestätigung der Hypothese, dass die Herausbildung einer beruflichen Identität durch individuelle persönliche Identitätsanteile und biografische Bezüge geprägt ist. Folglich wird die Kohärenz der unterschiedlichen Erinnerungsgemeinschaften nicht erschüttert und die gesellschaftliche Ordnung nicht kritisiert.

Hinsichtlich des Selbstentwurfes Sozialer Arbeit als kritische Handlungswissenschaft fällt die Differenz sowie das Paradoxon von Postulatgestaltung und praktischer Umsetzung ins Gewicht. Die Definition Sozialer Arbeit als Handlungswissenschaft hebt die Verwobenheit Sozialer Arbeit und Gesellschaft hervor. Das Spezifikum Sozialer Arbeit besteht hierbei in der Vielschichtigkeit der Wirkungsebenen. Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession stützt sich auf ihre zugrunde liegenden ethischen Prinzipien, die die Wahrung der Menschenrechte und die Herstellung sozialer Gerechtigkeit beinhalten. Dabei sind hegemoniale und neoliberale Herrschaftsverhältnisse zu hinterfragen, in denen sich Soziale Arbeit durch ihre gesellschaftsstabilisierende Funktion einbettet und als Akteur:in agiert[20]. Diese Kritik findet unter dem Postulat der Professionsreflexion statt, welches als Kernelement der Profession betitelt wird und das Doppelte Mandat zum Tripelmandat erweitert[21].

Für die praktische Umsetzung der Postulatgestaltung kritischer Sozialer Arbeit konnte ein Dilemma aufgezeigt werden, welches darin besteht, dass Praktiker:innen Sozialer Arbeit ebenfalls wie konstruierte Adressat:innen Sozialer Arbeit, Individuen dieser Gesellschaft sind und selbst zum Gegenstand der forcierten Gesellschafts- und Ideologiekritik gemacht werden müssen. In diesem Zusammenhang konnte herausgearbeitet werden, dass das Kritikverständnis, mit dem kritische Soziale Arbeit agiert, dieses Dilemma nicht auflösen kann, da sich die Kritik zunächst auf strukturelle Ungleichheiten, hegemoniale Herrschaftsverhältnisse und Machtpositionen bezieht, weniger hingegen auf die Positionen und Selbstentwürfe der Kritiker:innen selbst[22]. Ein differenziertes Kritikverständnis muss um das Verständnis erweitert werden, die Selbstverständlichkeit, mit der Kritik geäußert wird, in Frage zu stellen[23]. Gleichermaßen gilt es in Frage zu stellen, welche Gegenstände als weniger kritikwürdig bestimmt werden und welche normativen Vorstellungen in diesem Zusammenhang wirken.

Für die Position kritischer Sozialer Arbeit im Kontext des kollektiven Erbes eröffnet sich hier ein wesentlicher Sinnzusammenhang. Alle Akteur:innen Sozialer Arbeit sind in gesellschaftliche, politische und ökonomische Verhältnisse eingebunden. Nicht nur hinsichtlich ihrer beruflichen Anforderungen durch das Tripelmandat, sondern auch als Privatpersonen. Diese individuellen Positionen und gesellschaftlichen Kontexte bestimmen die Wissenschaftsproduktion und die Ordnungen, die für selbstverständlich und wahrheitsgetreu innerhalb der Diskurse angenommen werden.

Vor dem Hintergrund dieser Verwobenheit und der aufgezeigten Wechselverhältnisse zwischen individuellen Positionen, gesellschaftlichen Kontexten und Wissenschaftsproduktionen kann festgehalten werden, dass individuelle, institutionelle und gesellschaftlich verankerte Abwehrfunktionen die Wissenschaftsproduktion mitbestimmen.

Die Institutionalisierte Abwehrhaltung[24] identifiziere ich in diesem Kontext als gesellschaftliche Ordnung, die als selbstverständlich angenommen wird und als nicht kritikwürdig erscheint. Aus diesem Grund wird Schuldabwehr nicht zum Gegenstand des wissenschaftlichen Diskurses und die Auseinandersetzung damit folgend nicht zum Gegenstand einer beruflichen Professionsreflexion benannt. 

Für eine diversitätssensible Soziale Arbeit bedeutet dies zusätzlich, dass dieser Diskurs und die Wissenschaftsproduktionen eine Hierarchisierung und Priorisierung von Diversität vornehmen. Darunter verstehe ich, dass die Deutungsmacht des Wissensdiskurses und seiner Akteur:innen den Maßstab bestimmen, an dem Diversität gemessen und zum Gegenstand von Aushandlungen und Kritik gemacht wird. Diese gesellschaftliche Ordnung kann so vehement aufrechterhalten werden, weil hier die Verwobenheit von Gesellschaft, Institutionen und Akteur:innen in gegenseitigem Wechselverhältnis an der Bestätigung dieser Ordnung mitarbeiten. Sie erfährt damit eine gesamtgesellschaftliche Gültigkeit, die als selbstverständliche Wahrheit angenommen und zur Normative perpetuiert wird. Darüber hinaus wird diese Normative mit dem Bild der ‚Erinnerungsweltmeister:in‘ chriffriert.

Die Selbstentwürfe Sozialer Arbeit als kritische Handlungswissenschaft und Menschenrechtsprofession reihen sich in diese Selbststilisierung ein und fungieren hinsichtlich ihrer Position und Wirkungsmacht im Kontext des kollektiven Erbes als weitere Entlastungsversuche. Dies hat für die gesellschaftsstabilisierende Funktion Sozialer Arbeit eine fatale Bedeutung, da sie ein Geschichtsbewusstsein aufrechterhält, das Abwehrfunktionen fortwährend reinszeniert.

Kontinuitätslinien, die an die Ideologie eines nationalsozialistischen Erziehungsbegriffes anschließen, lassen sich, zwar verändert, jedoch nicht ungebrochen, in den Konzeptionsgestaltungen und Postulaten Sozialer Arbeit identifizieren. Hervorzuheben sind hier das Doppelte Mandat, das nach einem (Re-)integrationsauftrag agiert sowie das klassifizierende Denken Sozialer Arbeit, welches Personen zu Adressat:innen Sozialer Arbeit konstruiert, ihnen deviantes Verhalten zuschreibt und einen besonderen Hilfebedarf attestiert[25].

Dass Postulate Sozialer Arbeit bis dato nicht differenziert auf ihre inhärenten Kontinuitäten und Schuldabwehrmechanismen untersucht wurden, lässt sich auf das unzulängliche Kritikverständnis bezüglich der beruflichen Professionsreflexion (berufliche Identität) zurückführen, mit dem kritische Soziale Arbeit operiert.

Verknüpft mit Theoriebildungen zu Schuldabwehrmechanismen konnte für die Position Sozialer Arbeit als kritische Handlungswissenschaft im Kontext des kollektiven Erbes herausgearbeitet werden, dass das Kritikverständnis, mit dem operiert wird, maßgeblich Interdependenzen in partikularen, allgemeinen und professionsspezifischen Erinnerungspraxen aufweist. Das Kritikverständnis formt sich vornehmlich aus dem beruflichen Identitätsverständnis. Dieses wiederum ist verflochten in persönliche, gesellschaftliche, politische und familiäre Kontexte. Dieses Wechselverhältnis wird durch die interpretative Auswertung der Interviews deutlich, welche zeigt, dass eigene innerfamiliäre Tradierungen Verbindungen mit gesellschaftlichen und politischen Abwehrfunktionen aufweisen und die Vergegenwärtigung von Vergangenheit formen, die letztlich Einfluss auf die Gestaltung der Hochschullehre nimmt. In dem Lehrsetting entsteht dadurch ein Erinnerungskontext, der Geschichtsdeutungen anbietet, die für Akteur:innen anderer Erinnerungsgemeinschaften anwendbar sind, weil ähnliche Deutungsmuster von TäterInnenschaft angeboten werden, die die Vergangenheitsbildung der Studierenden bestätigen. Kontinuitäten der Schuldabwehr werden dadurch nicht irritiert und aufgebrochen, sondern vielmehr durch einen wissenschaftlichen Bezugsrahmen mit einer Gültigkeit versehen.

Schuldabwehrfunktionen sind habituell in die Gesellschaft eingeschrieben und reinszenieren sich auf verschiedenen Wirkungsebenen. Diese Wirkungsebenen schließen die Instanzen Sozialer Arbeit mit ein, weshalb die Abwehrfunktionen im Kontext Sozialer Arbeit die gleichen Mechanismen und Charakteristika aufweisen, wie sie auch für gesellschaftliche, politische und familiäre Kontexte identifiziert werden. Aufgrund der gesellschaftsstabilisierenden Funktion Sozialer Arbeit kann diese nicht getrennt von wirkenden Machtverhältnissen und gesellschaftlichen sowie politischen Kontexten betrachtet werden, sondern vielmehr als stabilisierender Teil dessen. Abwehrfunktionen sind unter Berücksichtigung ihrer mehrdimensionalen Tradierungsprozesse als Bestandteil dieser gesellschaftlichen Ordnung zu verstehen, wodurch die Funktion Sozialer Arbeit in der Aufrechterhaltung von Kontinuitäten der Schuldabwehr verdeutlicht wird.

Der Selbstentwurf Sozialer Arbeit als kritische Handlungswissenschaft forciert eine Gesellschaftskritik und Ideologiekritik, kann diese jedoch nur differenziert betreiben, wenn Sozialarbeitswissenschaftler:innen selbst zum Gegenstand der Kritik werden, indem ihr Handeln und ihr berufliches Selbstverständnis vor dem Hintergrund ihrer Verflochtenheit in Herrschaftsverhältnisse und die normative Ordnung in Frage gestellt wird. Hierzu zählt unabdingbar das Hinterfragen eigener Abwehrfunktionen. Diese Abwehrfunktionen haben Auswirkungen auf die Herausbildung des beruflichen Selbstverständnisses, insbesondere weil sie sich in der Erinnerungsgemeinschaft zwischen Lehrenden und Studierenden im Hochschulkontext reinszenieren sowie die Vergegenwärtigung von Vergangenheit als Selbstverständlichkeiten gegenseitig bestätigen.

Um beschriebene Kontinuitätslinien zu durchbrechen, schlage ich vor, die Wissenschaftsproduktion der Sozialarbeitswissenschaft auf ihre Wissensproduktionen hin zu untersuchen. Hierbei müssen sowohl mögliche Kontinuitäten hinterfragt, Interdependenzen in der Reproduktion von Schuldabwehrmechanismen als auch die Wissenschaftspositionen als solche analysiert werden. Da das Geschichtsbewusstsein Auswirkungen auf Ressentimentbildungen hat, bedeutet das für eine diversitätsorientierte Lehre, dass die Herausbildung eines Professionsverständnis unabdingbar unter Bezugnahme einer kritischen selbstreflexiven Haltung Sozialer Arbeit und ihrer Lehrenden hinsichtlich etwaiger tradierter Schuldabwehrmuster im Kontext des kollektiven Erbes erfolgen muss. Die Erkenntnis, dass biografische Anteile die Herausbildung eines Professionsverständnisses (berufliche Identität) bedingen und das Handeln als Praktiker:innen (hier Lehrpersonen) beeinflussen, macht eine Etablierung biografischer Ansätze und Bezüge in der Hochschullehre unerlässlich. Für den Umgang mit dem kollektiven Erbe bedeutet das eine Auseinandersetzung mit etwaig tradierten Abwehrmustern. Um in der Herausbildung von beruflicher Identität ein Geschichtsbewusstsein zu etablieren, das den Umgang mit dem kollektiven Erbe dahin gehend gestaltet, dass (Re)produktionen von Differenzlinien abgeschwächt werden, wird außerdem vorgeschlagen eine Erweiterung des Curriculums um eben genannte Themenbereiche institutionell zu installieren. Darüber hinaus wurde die Notwendigkeit eröffnet, (Re)produktionsweisen von Differenzlinien immer in Bezug zu Selbstentwürfen und Handlungsmaximen Sozialer Arbeit zu setzen, um diese auf ihren (re)produktiven Gehalt zu untersuchen.

Soziale Arbeit birgt mit ihrer gesellschaftsstabilisierenden Funktion eine Ambivalenz in sich, insbesondere hinsichtlich ihres Selbstentwurfs einer kritischen Handlungswissenschaft. Dieser Selbstentwurf sowie der Selbstentwurf der Menschenrechtsprofession bietet gleichzeitig jedoch eine Möglichkeit für differenzierte Auseinandersetzungen. Um die Vorteile einer Profession nutzen zu können, ohne ihre Nachteile zu banalisieren, sollten die Herausbildungen von Ambivalenzkompetenz[26] und Ambiguitätskompetenz[27] Eingang in die Hochschullehre finden. Die Kompetenzen bestehen darin, das Paradoxon Sozialer Arbeit mit ihren vielfältigen Deutungsmustern, Ambivalenzen und Ambiguitäten als kritische Handlungswissenschaft aushalten zu können, Vorteile anzuerkennen und zugleich zu hinterfragen, welche Funktionen diese Selbstentwürfe einnehmen.

Für eine kritische Handlungswissenschaft im Kontext des kollektiven Erbes bietet das eine Möglichkeit der Neugestaltung ihrer Selbstentwürfe, wenn erkannt wird, dass diesen Entwürfen Abwehrmuster inhärent sind. Konzeptionen wie das Doppelte Mandat als auch das Tripelmandat, klassifizierendes Denken und (Re-)integrationsbestreben Sozialer Arbeit können in ihrer Historizität und ihrem Wechselverhältnis mit gesellschaftlicher und individueller Erinnerungspraxis interpretiert, dekonstruiert und modifiziert werden. Nur wenn Tradierungen und Kontinuitäten, die sich in diesen Postulaten und Selbstentwürfen identifizieren lassen, erschüttert und unterbrochen werden, kann eine Soziale Arbeit die Haltung einnehmen, die den Anforderungen des Ethikcodexes und dem Selbstentwurf einer Menschenrechtsprofession gerecht wird.

Die Auseinandersetzung mit dem kollektiven Erbe der Profession Sozialer Arbeit einschließlich ihrer Praktiker:innen sowie die Auswirkungen tradierter Schuldabwehrfunktionen muss, nicht zuletzt aufgrund aktueller Zunahme von nationalsozialistischer Ideologie und der Gesellschaftsfähigkeit von rechten Denkmustern sowie Weltbildern, unerlässlich zum Gegenstand des wissenschaftlichen Diskurses erhoben werden. Insbesondere der Wirkkreis Sozialer Arbeit wie etwa in Arbeitsfeldern der  Kinder- und Jugendhilfe (unterstrichen wird diese Annahme durch jüngste Untersuchungen des Wahlverhaltens bei jungen Erwachsenen)[28] und der politischen Bildung akzentuiert die Notwendigkeit und Relevanz einer diversitätssensiblen Sozialen Arbeit, die meines Erachtens nur dann adäquat praktiziert werden kann, wenn Praktiker:innen selbst zum Gegenstand reflexiver Auseinandersetzungen werden und autochthone deutsche Praktiker:innen ohne Minderheitenbiografie ganz besonders hinsichtlich ihrer Schuldabwehrmechanismen.

Literatur

Bergmann, Werner (2007): ‚Störenfriede der Erinnerung‘. Zum Schuldabwehr-Antisemitismus in Deutschland. In: Bogdal, Klaus-Michael/Holz, Klaus/Lorenz, Matthias N. (Hrsg.): Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz, Stuttgart: J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung & Carl Ernst Poeschel GmbH, S. 13-36

Breschendorf, Felicitas (2024): „Besorgniserregend“ – Jugendstudie zeigt Rechtsruck in der Gen Z. Online im Internet: Jugendstudie zeigt Rechtsruck in der Gen Z – „besorgniserregend“ (fr.de) [Stand 30.04.2024]

Diner, Dan (2020) (Hrsg.): Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung

Erll, Astrid (2017): Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung (3. akt. u. erw. Aufl.), Stuttgart: J.B. Metzler Verlag, Springer Verlag

Gessler, Philipp (2006): Sekundärer Antisemitismus. Argumentationsmuster im rechtsextremistischen Antisemitismus. Online im Internet: Sekundärer Antisemitismus | bpb [Stand: 14.01.2022]

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Kappeler, Manfred (2000): Der schreckliche Traum vom vollkommenen Menschen. Rassenhygiene und Eugenik in der Sozialen Arbeit, Marburg: Schüren Presseverlag

Lohl, Jan (2011): Das psychische Erbe des Nationalsozialismus. Ein psychoanalytischer Beitrag zur Generationenforschung. In: Brunner, Markus/Lohl, Jan/Pohl, Rolf/Winter, Sebastian (Hrsg.) Volksgemeinschaft, Täterschaft und Antisemitismus. Beiträge zur psychoanalytischen Sozialpsychologie des Nationalsozialismus und seiner Nachwirkungen, Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 195-227

Lohse, André (2016): Antiziganismus und Gesellschaft. Soziale Arbeit mit Roma und Sinti aus kritisch-theoretischer Perspektive, Wiesbaden: Springer VS

Richter, Helmut (1989): (Sozial-)Pädagogik und Faschismus. Anfragen zur Kontinuität und Diskontinuität. In: Otto, Hans-Uwe/Sünker, Heinz (Hrsg.): Soziale Arbeit und Faschismus, Wiesbaden: Suhrkamp, S. 273-306

Rosenthal, Gabriele (1992): Kollektives Schweigen zu den Nazi-Verbrechen. Bedingungen der Institutionalisierung einer Abwehrhaltung. In: Psychosozial, Nr. 51, Jg. 15 (Heft III), S. 22-33

Salzborn, Samuel (2020): Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern, Leipzig: Hentrich & Hentrich

Schreier, Maren (2013): Soziale Arbeit, Wissenschaft und Kritik. In: Stender, Wolfram/Kröger, Danny (Hrsg.): Soziale Arbeit als kritische Handlungswissenschaft. Beiträge zur (Re-)Politisierung Sozialer Arbeit, Hannover: Blumhardt Verlag, S. 191-205

Staub-Bernasconi, Silvia (2013): Kritische Soziale Arbeit – ohne auf eine Politisierungsphase Sozialer Arbeit warten zu müssen. In: Stender, Wolfram/Kröger, Danny (Hrsg.): Soziale Arbeit als kritische Handlungswissenschaft. Beiträge zur (Re-)Politisierung Sozialer Arbeit, Hannover: Blumhardt Verlag, S. 37-81

Staub-Bernasconi, Silvia (2009): Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft. In: Birgmeier, Bernd/Mührel, Eric (Hrsg.): Die Sozialarbeitswissenschaft und ihre Theorie(n). Positionen, Kontroversen, Perspektiven, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 131-147

Stender, Wolfram (2011): Ideologische Syndrome. Zur Aktualität des Sekundären Antisemitismus in Deutschland. In: Brunner, Markus/Lohl, Jan/Pohl, Rolf/Winter, Sebastian (Hrsg.): Volksgemeinschaft, Täterschaft und Antisemitismus. Beiträge zur psychoanalytischen Sozialpsychologie des Nationalismus und seiner Nachwirkungen, Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 227-251

Stender, Wolfram/Kröger, Danny (2013): Zur Einführung: Soziale Arbeit ist politisch! In: Stender, Wolfram/Kröger, Danny (Hrsg.): Soziale Arbeit als kritische Handlungswissenschaft. Beiträge zur (Re-)Politisierung Sozialer Arbeit, Hannover: Blumhardt Verlag, S. 7-15

Welzer, Harald (2001): Das soziale Gedächtnis. In: Welzer, Harald (Hrsg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg: Hamburger Edition, S. 9-25

Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline (2002): »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag


[1] Hervorgehoben werden diese durch Fettdruck im Text.

[2] Um die Inklusivität geschlechtlicher Identitäten zu wahren, wird in der Arbeit mit dem Doppelpunkt : gegendert. Diese Genderschreibweise wird genutzt, um eine gewaltvolle Markierung mit dem Sternchen nicht zu reproduzieren, sowie die Barrierefreiheit der Arbeit in Bezug auf die Nutzung eines Screenreaders zu ermöglichen.

Wenn von NationalsozialistInnen und AkteurInnen gesprochen wird, die im nationalsozialistischen Regime mitwirkten, wird in der vorliegenden Arbeit lediglich das Binnen-I genutzt, um aufzuzeigen, dass sich TäterInnenschaft vornehmlich durch eine Cisnormative ausgezeichnet hat.

[3] Damit soll nicht ausgeschlossen werden, dass NationalsozialistInnen vielfältige geschlechtliche Identitäten gehabt haben können. Vielmehr soll durch die Verwendung des Binnen-I’s hervorgehoben werden, dass queere Menschen der nationalsozialistischen Ideologie nicht entsprachen und vornehmlich Opfer von nationalsozialistischer Verfolgung und Vernichtung waren.

[4] Vgl. hierzu Salzborn 2020; Stender 2011; Lohl 2011; Diner 2020

[5] Vgl. Richter 1989

[6] Vgl. Salzborn 2020; Richter 1989

[7] Vgl. Richter 1989

[8] Vgl. Lohl 2011; Welzer/Moller/Tschuggnall 2002

[9] Vgl. Lohl 2011

[10] Vgl. Lohl 2011

[11] Vgl. Rosenthal 1992; Welzer/Moller/Tschuggnall 2002

[12] Vgl. Richter 1989

[13] Vgl. Gessler 2006; Bergmann 2007; Stender 2011

[14] Vgl. Stender 2011

[15] Vgl. Richter 1989

[16] Vgl. Halbwachs 1985

[17] Vgl. Halbwachs 1985

[18] Vgl. Welzer 2001; Erll 2017

[19] Vgl. Halbwachs 1985; Erll 2017

[20] Vgl. Lohse 2016; Stender/Kröger 2013

[21] Vgl. Staub-Bernasconi 2009, 2013

[22] Vgl. Schreier 2013

[23] Vgl. Schreier 2013

[24] Vgl. Rosenthal 1992

[25] Vgl. Kappeler 2000

[26] Vgl. Effinger 2012

[27] Vgl. Effinger 2012

[28] Vgl. Breschendorf 2024