Ein „Fall“-Beispiel

Kontinuitäten von Täterschaft

Versuch einer Fallvignette

Jürgen Müller-Hohagen

Eine Beratungsstelle für Männer hatte Herrn L. an mich verwiesen. Was lag an? Er habe, so teilte er mir im Erstgespräch mit, seine Frau heftig geschlagen, die 15jährige Tochter sei dazwischengegangen, die habe er gegen den Schrank geschubst, daraufhin habe sie bei den Nachbarn geklingelt, und diese hätten die Polizei gerufen. Seine Frau sei für einige Stunden ins Krankenhaus gekommen, befinde sich seitdem in einem Frauenhaus, verweigere jeden Kontakt mit ihm. „Bin ich denn ein Monster?“ so lautete seine Kernfrage. Ich antwortete eher trocken, zwar würde ich ihn noch nicht weiter kennen, aber ein „Monster“ sei er natürlich nicht, vielmehr ein Mensch aus Fleisch und Blut. Jedoch, so fügte ich hinzu, für seine Frau sei er sicherlich in diesem Augenblick so etwas wie ein Monster gewesen, als er mit zuvor ungekannter Gewalt über sie herfiel. Herr L. wollte zunächst widersprechen, doch dann stutzte er: „Ach so, da kommt es natürlich auf die Perspektive an. Eigenartig, daran habe ich bisher noch nicht gedacht. Danke für die klaren Worte.“

In den folgenden Stunden verfiel er mehrfach in das bekannte Muster, sich selbst als „Opfer“ hinzustellen – die Krise am Arbeitsplatz, die pubertierende Tochter, der Tod der Mutter, und dann noch „die keifende Anklage meiner Frau nur wegen einer Bagatelle, da reicht es einem doch mal.“ Ich ließ mich nicht auf die hier angebotene „Solidarität zwischen Männern“ ein, sondern erklärte ihm, das seien alles Anzeichen einer Täter-Opfer“-Umkehrung. „Ach so“, murmelte er, „stimmt, davon habe ich gehört, aber dass mir selbst das jetzt so passiert!“ Er gab mir recht, vielleicht nicht aus vollem Herzen, doch vom Verstand her. Jedes Mal im Folgenden bei solchen Konflikten zwischen uns, und davon gab es verschiedene, fragte ich mich allerdings, ob er die Arbeit fortsetzen würde. Er kam weiter.

Dann, in der fünften Stunde: „Was ich Ihnen noch gar nicht gesagt habe, ist der Grund, warum die mich in der Beratungsstelle ausdrücklich zu Ihnen geschickt haben. Die hatten nämlich so eine Familienbiografie von mir erhoben, und da haben sie ziemlich gestutzt, als ich wahrheitsgemäß angegeben habe, dass mein Großvater mütterlicherseits in der SS war. Was er dort gemacht hat, darüber ist nie geredet worden bei uns. Das ist doch normal, oder?“ Auch hier war meine Antwort eher trocken: „Klar, das war normal, jedenfalls in dem Sinne, dass es landauf landab so gehandhabt wurde im Land der ehemaligen Täter. Aber menschlich gesehen und insbesondere mit Blick auf die Millionen Ermordeten und Drangsalierten war es alles andere als menschlich, es war einfach feige.“

In der Folge hat Herr L. damit begonnen, sich genau mit der Geschichte seines geliebten Großvaters auseinanderzusetzen, und kam auf viele Einsichten, wie das bis zu ihm hin von bisher ungeahnter Wirkungskraft war. Nicht alle Misshelligkeiten seines Lebens ließen sich natürlich 1 zu 1 von dorther ableiten, schon gar nicht sein Gewaltausbruch gegenüber Frau und Tochter, aber Fäden zu sehen, Linien, mögliche Kontinuitäten, das öffnete ihm die Augen.

Haben Sie, liebe Leserinnen und Leser, die vorstehenden Zeilen vielleicht mit etwas Überraschung aufgenommen? So viel Ringen um Klarheit beim Nachkommen eines Nazi-Täters? Sie haben sich nicht getäuscht, hier stimmt etwas nicht. Diese Fallvignette ist erfunden.

Allerdings nicht ganz. Elemente für solch eine Kurzdarstellung hätte ich genug aus vierzig Jahren psychologischer und psychotherapeutischer Arbeit mit Nachkommen aus der damaligen Mehrheitsgesellschaft, den „arischen Volksgenossen“. Doch selbst wenn – viel zu selten – die Ablösung von den ehemaligen Täter:innen gesucht wurde, fand deren so typische Verkehrung in vermeintliche „Opfer“ ihre Fortsetzung noch bei den Nachkommen. Einerseits gehörte das eigene Leiden natürlich in die Therapie, waren sie doch sehr von Gewaltausübung, Schweigen, strikten Loyalitätsgeboten getroffen worden. Aber dann auch den Schritt zu gehen, zusätzlich zur Bearbeitung der Leidenserfahrung nach eigenen wie auch immer übernommenen Gewalttendenzen Ausschau zu halten, das ist allenfalls in Ansätzen und nur sehr selten möglich geworden. Auch wenn manches so sehr danach rief und es zu nachhaltigen Befreiungen hätte kommen können. Was sich allenfalls anschauen ließ nach längerer Therapie, war gegen sich selbst gewandte Gewaltausübung mit Hintergründen aus der Naziherkunft.

Frau Gerlicher war da anders. Über sie habe ich in meinem Buch Geschichte in uns berichtet, erschienen 1994 (!). Ihr erster Brief, mit dem ein langdauernder und nicht-therapeutischer Austausch zwischen uns begann, liegt mehr als dreißig Jahre zurück. Auslöser war ein Vortrag, in dem ich unter anderem den schwierigen Umgang mit dem Thema der NS-Schuld ansprach. Das stieß in dem akademischen Publikum auf erheblichen Unmut. Ausdrücklich dazu schrieb Frau Gerlicher am Ende ihres Briefes Folgendes (S. 171):

„Die einen setzen die Tradition des Verdrängens fort, die anderen zerbrechen daran. Ich könnte zahllose Geschichten erzählen, wie Psychotherapie die Auseinandersetzung blockieren kann, wie überhaupt Schuld an sich tabuisiert wird… Wie geht man mit Schuld um? Ganz einfach, man hält sie aus. Es gibt nur den Weg, sie zu ertragen, jeder Mensch lädt Schuld auf sich, man muss sich ihr stellen. Ich habe eine 7jährige Tochter. Seit kurzer Zeit kann ich wirklich zulassen, dass ich schuldig geworden bin an ihr, insofern als ich ihr meine Lebensangst, meine Verzweiflung und meinen Hass weitergegeben habe. Seit ich mir das eingestehen kann, kann ich aber auch aktiv werden, d.h. ich habe ihr eine Kindertherapie verschafft. Die Analytikerin war auch gleich ganz besorgt, mir meine Schuld auszureden, was mich am Ergebnis der Therapie schon wieder sehr zweifeln lässt. Ich und nur ich allein habe dieses Kind angeschrien, verletzt, alleingelassen, und manchmal ertrage ich diesen Gedanken kaum, weil ich nur zu gut weiß, was psychisches Leid bedeutet… Wissen Sie, wie es ist, durch diese Stadt zu laufen und das faschistische Potential jedes einzelnen zu spüren? Da kann man nur wochenlang das Haus nicht verlassen. Aus Angst vor diesem Potential und nicht zuletzt aus Angst vor dem eigenen…

P.S. Dieser Brief war ein Stück Arbeit.“

Nachbemerkung J. M-H:
„Aus Angst vor diesem Potential und nicht zuletzt aus Angst vor dem eigenen“, genau das ist der Punkt. Vor diesen Aufgaben stehen wir weiterhin – und zwar sowohl auf Klient:innenseite als auch unter uns Therapeutinnen und Therapeuten.

Mir scheint allerdings, mittlerweile geht ein bisschen was voran. So suchte kürzlich eine Frau therapeutische Hilfe bei mir ausdrücklich deshalb, weil ihr derartige Tendenzen bei sich selbst aufgegangen waren, die überhaupt nicht zu ihrem Selbstbild und ihrer Lebenspraxis passten. Ein erschreckender Fremdkörper war das für sie – und doch ein Teil von ihr. Wie nur konnte das zusammenpassen?

Vielleicht kann ich in der Zukunft tatsächlich eine schlüssige Fallvignette zu diesem hochgradig wichtigen Thema vorlegen – mehr als achtzig Jahre später.