Umgehen mit NS-Kontinuitäten
Jürgen Müller-Hohagen
Über transgenerationale Weitergabe von Traumatisierungen aus NS-Zeit und Zweitem Weltkrieg wird mittlerweile viel gesprochen. Die Gegenseite aber, nämlich die Ausübung der Gewalt, ohne die es diese Traumatisierungen nicht gegeben hätte, wird dabei meist ausgeklammert. Transgenerationale Übermittlung von Täterbezügen, solch eine Behauptung erntet Kopfschütteln. Dabei müsste diese These für einen einigermaßen klardenkenden Menschen völlig logisch sein.
Schließlich ist bekannt, dass Kinder in ihrer extremen Abhängigkeit unendlich viel von ihren Eltern und der weiteren Umgebung aufnehmen. Dazu gehören doch auch deren dunkle, verborgene Seiten. Gerade für so etwas haben Kinder feine Antennen. Und da sollten ausgerechnet NS-Täterbezüge auf wundersame Weise von der transgenerationalen Übermittlung ausgeschlossen sein?
1. Umgehen mit diesen Hintergründen im Sinne eines Gespenstes, das umgeht
In Nachkriegsdeutschland wurden Täterschaft und Tatbeteiligung in hohem Maße verschwiegen, weggelogen, verleugnet, verdrängt. In West und Ost verlief das zwar unterschiedlich, aber das Ergebnis war wohl ähnlich.
Wer ist mit Blick auf die NS-Zeit als Täter oder Täterin zu bezeichnen? In der Regel wird hier an die KZ-Wärter gedacht. Oder an die SS. Aber sonst? Und wer hätte es schon selber zugegeben, Täter oder Täterin geworden zu sein? Das fällt ja schon im „normalen“ Alltag äußerst schwer. Täter und Täterinnen, das sind immer die anderen.
In Bezug auf NS-Täterschaft gab es eine riesige Bandbreite. Sie begann bei den Mördern und Folterern und deren Auftragsgebern. Und wer hatte Hitler mit seinen Schläger- und Mordtruppen schon vor 1933 gewählt? Und wie viele Millionen jubelten ihm bis zum Ende zu? Sie alle sollten von Täterbezügen frei sein? Im Gegenteil, selbst noch die „Volksgenossen“, die nur widerwillig folgten, waren dennoch wie auch immer einbezogen in die Mord- und Vernichtungsmaschinerie… Wo ist da die sichere Grenze, die jemanden aus dem Kreis der „Volksgenossen“, der Nicht-Verfolgten, mit Sicherheit sagen ließe, auf keinen Fall zu den Tätern und Tatbeteiligten zu gehören?
Im Falle individueller Täterschaft – Mord, sexualisierte Gewalt, Beleidigung… – ist die Zuordnung noch relativ einfach, jedenfalls sofern es gelingt, die Tat nachzuweisen. Doch bis zu welchem Grad an Tatbeteiligung gilt das bei kollektiv verübten Verbrechen? Die Finanzbeamten, die das Eigentum der zu deportierenden Juden inventarisierten, um es der „Arisierung“ zuzuführen, waren sie Täter, Ermöglicher, Zuarbeiter oder, wie sie sich selbst in der Regel definierten, „bloße Pflichterfüller“? Für die ihrem Tun Unterworfenen war es aber keine Frage, sie hatten es mit Täter:innen zu tun. Diese jedoch leugneten nicht nur hier, Taten der Gewalt ausgeübt zu haben bzw. an ihnen beteiligt gewesen zu sein.
Dabei bestand nach 1945 eine der wichtigsten Strategien der ehemaligen Täter:innen darin, sich stattdessen als „Opfer“ darzustellen. Diese Täter-„Opfer“-Umkehrung wirkt über Generationen hinweg.
Das Beispiel des vermeintlich „harmlosen“ Finanzbeamten beleuchtet etwas Entscheidendes: die Perspektivität von Täterschaft. Für die eine Seite war dies ein bloßer „Verwaltungsakt“, für die andere war es Bestandteil der Vernichtung.
Diese Perspektivität beim Blick auf NS-Täterschaft und Tatbeteiligung gilt es viel mehr zu sehen als bisher, auch in der Psychologie. Der Blick der Verfolgten und ihrer Nachkommen ist einzubeziehen.
Stattdessen herrschte nach 1945 lange Zeit der „Große Frieden mit den Tätern“, wie es der Publizist Ralph Giordano 1987 in seinem Buch „Die Zweite Schuld“ benannt hat. Und er sprach vom „Verlust der humanen Orientierung“. Davon zieht sich etwas durch bis heute, solange in unserer hochgelobten deutschen Erinnerungskultur eine entscheidende Seite fehlt, nämlich ein geklärter Umgang mit konkreter Täterschaft und Tatbeteiligung unserer jeweiligen Vorfahren.
Die gesellschaftliche Blockierung einer solchen Sichtweise war enorm. So definierte das höchste deutsche Gericht, der Bundesgerichtshof, 1969 in einem äußerst folgenreichen Urteil Mord und Beihilfe im Zusammenhang mit den NS-Verbrechen sehr eng. Da musste jemand schon ganz konkret gemordet oder sich zumindest nah daran beteiligt haben. Erst seit etwa 2010 hat sich diese juristische Sicht geändert, wohl als Folge der inzwischen allgemein veränderten Sicht auf die NS-Zeit – und sicherlich auch angesichts des fast vollständigen „Aussterbens“ der Täter:innen-Generation. So ließ sich jetzt unter anderem eine „kleine Sekretärin“ aus dem KZ Stutthof wegen Beihilfe zum Mord verurteilen mit der nun möglichen Begründung, dass auch ihre Tätigkeit unerlässlich war, die Mordmaschinerie am Laufen zu halten.
Oftmals, gerade auch von psychologischer Seite, wird eingewendet, viele Täter:innen seien zuvor selbst Opfer von Gewalt gewesen. Also könne man hier nicht so streng unterscheiden, müsse den ganzen Menschen sehen. Diese individualisierende Sicht greift im Fall der immensen NS-Verbrechen aber völlig zu kurz. Entscheidend war nicht die persönliche Geschichte der SS-Leute, sondern ihr Einbezogensein in die Mordmaschinerie. Das gilt es sorgfältig auseinanderzuhalten. Gerade, weil an dieser Stelle so unendlich viel vernebelt wird und die Geschädigten darunter besonders zu leiden haben, ist Klarheit unerlässlich.
Selbstverständlich können auch NS-Täter und Täterinnen traumatisiert worden sein, dies aber nicht als Täter, sondern etwa als Heimatvertriebene oder als Kriegsverletzte. Häufig sind dann solche Belastungen herangezogen worden, um damit die eigene wie auch immer geartete Schuldbeteiligung zu verbergen. Das hat zu massiven Verwirrungen bei den Nachkommen geführt, von denen übrigens auch Psychotherapeutinnen und Therapeuten nicht ausgeschlossen sein müssen.
Noch problematischer sind gelegentlich zu beobachtende Versuche, den Traumabegriff auch noch in Zusammenhang mit der gigantischen NS-Schuld zu bringen und dann etwa von Tätertraumata zu sprechen. Das ist grundlegend falsch: Bei den Täter:innen lag nicht Trauma vor, sondern Entmenschlichung. Sie haben Mitmenschen Furchtbares angetan. Bei diesen konnte das zu Traumatisierungen führen, aber nicht bei den Täter:innen.
Solche Begriffsverwirrungen manifestieren sich bis auf den heutigen Tag deutlich z.B. in der Rede davon, auf beiden Seiten, also in den Familien von Verfolgten wie von Verfolgern, habe es nachher gleichermaßen Schweigen gegeben. Dabei wird der fundamentale Unterschied übersehen, ob geschwiegen wurde, um die Nachkommen vor dem Übermaß des Erlittenen zu schützen, oder ob es primär darum ging, die eigene Schuldverwicklung zu verbergen.
2. Therapeutisches Umgehen mit NS-Täterhintergründen
Am ehesten kommt in Therapien zur Sprache, wie Nachkommen unter ihren Nazi-Eltern oder -Großeltern zu leiden hatten, im Extremfall, wie sie traumatisiert wurden.
Doch sich zu fragen, wieweit sich etwas von deren Täterbezügen, von ihrer Herrenmenschenmentalität, von Rassismus und Antisemitismus, von Menschenverachtung und Rigorismus auch in der eigenen Persönlichkeit eingenistet hat, das ist bis heute weitgehend ein Tabu.
Dabei ist zu bedenken: In der Auseinandersetzung mit den NS-Generationen standen und stehen die Nachkommen bis heute unter einer enormen Spannung, nämlich zwischen der Liebe des Kindes zu seinen Erzeugern und auch deren Vorfahren und dann der mehr als mühsamen Einsicht, dass hier vielleicht Täterschaft vorgelegen haben könnte. Und dann gesellschaftlich weitgehend allein gelassen zu sein bei diesem seelischen Spagat, das hat massenhaft auch noch zu eigenem Verleugnen gegenüber wie auch immer gearteten Täterkontinuitäten bis hin zu sich selbst geführt.
Hinter dem Ausweichen vor diesen heiklen Themen steht oftmals die bange Frage: „Bin ich dann selber ein Nazi?“ Oder: „Was trage ich da an Unheimlichem in mir?“ „Wovon bin ich kontaminiert?“ „Bin ich nicht mehr Herr:in im eigenen Haus?“ Bei Licht betrachtet, sind die Nachkommen natürlich nicht schuldig. Aber diese Versicherung reicht nicht in die seelischen Tiefen, sieht an den dennoch möglichen Kontinuitäten vorbei.
Solches Nachforschen sollte nicht weiter ausgeklammert werden. Schon mit Blick auf die Gesellschaft ist dies wichtig als Beitrag der Psychotherapie zum Diskurs darüber, was zu all dem allgemein in der Öffentlichkeit geäußerten Hass und der Hetze beiträgt. Der Vermutung ist näher nachzugehen, dass dabei untergründige Kontinuitäten aus der NS-Zeit einen erheblichen Anteil haben könnten.
Psychologisch bedeutsam ist etwa folgendes „Relikt“ von damals, nämlich eine seinerzeit systematisch „eingeübte“ Bereitschaft zur Ungerührtheit gegenüber den Nächsten, also gegenüber dem „Verschwinden“ der jüdischen Nachbarn, von Sinti und Roma, von Linken, von vermeintlichen „Kriminellen“. Im Schutzraum des therapeutischen Sprechzimmers lässt sich auch darüber sprechen. Dafür sind dann aktive Anstöße von therapeutischer Seite hilfreich.
Zwar finden Hassprediger kaum den Weg in die therapeutischen Praxen, doch gibt es verschiedene eher verdeckte Kontinuitäten bis zu heutigen Zeitgenossen, die in den Blick zu nehmen sehr wichtig sein kann. Das betrifft nicht nur die direkten Nachkommen, sondern kann weitergehen über mehrere Generationen, gerade weil so viel geschwiegen und gelogen wurde.
Hinweise mögen sein ein problematischer Umgang mit Aggression (Gewalt versus Vermeidung) oder mit Schuld (auch hier Vermeidung oder umgekehrt übermäßige Selbstbezichtigung). Ausgrenzen anderer oder soziale Selbstisolation können ebenfalls Hinweise darstellen, ebenso Sündenbockdynamiken in Familie und Arbeitswelt oder auch ansonsten unerklärlich wirkende seelische Störungen. Überall hier ergeben sich eventuell Aha-Erlebnisse, wenn erst einmal probeweise eine transgenerationale Betrachtungsweise in Richtung auf mögliche Täterschaftshintergründe und -kontinuitäten eingenommen wird. Ausklammern sollte man das gerade im psychotherapeutischen Bereich nicht.
Ein Punkt aus dem allgemeinen therapeutischen Wissen ist in diesen Zusammenhängen von besonderer Brisanz. Es ist bekannt, dass reale Schuld, sei es auf dem Schulhof oder bei kriminellen Akten, nicht unbedingt mit entsprechenden Schuldgefühlen oder -einsicht korreliert. Oft ist eher das Gegenteil der Fall. Und so haben viele NS-Täter, anders als die von ihnen Verfolgten, nach 1945 ruhig geschlafen – aber unter Umständen etwas von den weggeschobenen Schuldgefühlen an ihre Nachkommen „vererbt“.
Hierher gehört auch etwas bisher weitgehend Übersehenes: Was ist mit den Schuldgefühlen derer, die das massenhafte Unrecht zwar wahrnahmen, aber nichts dagegen unternahmen? Warfen sie sich später unterlassene Hilfeleistung vor? Was davon ging auch hier auf ihre Nachkommen über?
Noch ein wichtiger Punkt: Oft war es nur ein einzelnes Familienmitglied, auf das sich solche Kontinuitäten übertrugen. Leicht gerieten sie dann innerhalb des Familiensystems in eine Außenseiterposition oder gar in die Rolle eines Sündenbocks. Solche Nachkommen waren und sind besonders auf geeignete psychotherapeutische Hilfe angewiesen. Gerade ihnen und selbst noch ihren Nachkommen wirksam zu helfen, ist ein entscheidender Grund, warum man sich im therapeutischen Feld mehr als bisher diesen heiklen Themen zuwenden sollte, die voll von Widersprüchen und Ambivalenzen sind. Es geht nicht darum, diese unbedingt auflösen zu wollen, vielmehr sie sichtbar werden zu lassen, um schließlich in Autonomie damit umgehen zu können.
Natürlich ist hier mit besonderem Fingerspitzengefühl vorzugehen. Dazu gehört unabdingbar die Vorarbeit auf therapeutischer Seite, eigene derartige Hintergründe oder Kontinuitäten zu erforschen. Anderenfalls werden diese Themen entweder, wie seit Langem üblich, vermieden oder im Gegenteil mit Übereifer an den Klient:innen durchexerziert und dadurch einer sorgfältigen Bearbeitung entzogen.
Für solch einen fachlich kompetenten Umgang mit diesen schwierigen Bereichen fehlt wahrscheinlich noch auf weitem Feld eine eigentlich dafür notwendige Voraussetzung, nämlich deren Behandlung in den therapeutischen Fort- und Weiterbildungen. Wenigstens vorläufig lässt sich das vielleicht ausgleichen durch entsprechende Inter- und Supervisionen.
Insgesamt bewegt sich das angezeigte Vorgehen in einem Spagat. Da ist einerseits schon auf therapeutischer Seite das Ringen um wirkliche Klarheit bezüglich eigenen NS-Täterschaftshintergründen und ihren Folgen. Zum anderen braucht es ein Grundverständnis dafür, wie zerrissen gerade in diesen Zusammenhängen Klient:innen sein können und mit welch immensen Loyalitäten und Selbstzweifeln sie vielfach zu kämpfen haben.
Die Frage von Wahrheit und Lüge spielt auch in der „normalen“ Psycho- und Familiendynamik eine bedeutsame Rolle. Hier aber, im Zusammenhang mit den nach 1945 so sehr verleugneten und, man kann es leider nicht anders sagen, weggelogenen Täterbezügen ist das nochmals zugespitzt. An der tiefen Verletzung unserer ethischen Grundorientierungen kommen wir nicht vorbei. Alles ist davon kontaminiert. Das macht diese Aufklärungsarbeit so schwer – und so notwendig, individuell und gesellschaftlich.