Umgehen mit schwierigen Zeiten

Eine psychologische Betrachtung

von Jürgen Müller-Hohagen

Die Stimmungslage in unserem Land ist zurzeit – Winter/Frühjahr 2024 – alles andere als gut. Wohin man hört, gibt es Klagen. Das ist einerseits nicht verwunderlich angesichts von zwei schrecklichen Kriegen in der Nähe und weiteren rund um die Welt und von Drohungen, die bis zum atomaren Dritten Weltkrieg gehen. Auch die Wirtschaft ist betroffen. Und die massive Covid-Pandemie wirkt natürlich nach. Dazu kommt die bedrohliche Klimakrise. Das alles wühlt die Seelen auf und versetzt dem allgemeinen Lebensgefühl einen kräftigen Dämpfer.
Andererseits: Die vielfältigen Missstimmungen, Querelen, Empörungen im Kleinen und im Großen, Besserwissereien, Streitigkeiten auf allen Ebenen, sind die nur durch die aktuelle Lage zu erklären? Könnte nicht auch Vergangenes mit hineinspielen und dazu beitragen, dass manches so verfahren und unlösbar wirkt?
Dies ist die erste Frage, die hier in psychologischer Perspektive gestellt wird.

Umgehen mit harten Zeiten: erster Teil

Zunächst wird das Wort „Umgehen“ verwendet im Sinne von: „Ein Gespenst geht um.“ Also, was geht um in unseren Seelen der Jahre 2023/2024? Was für alte Gespenster könnten das sein?

  • Schon aus näherer Vergangenheit ist zu denken an die Kriege im zerfallenden Jugoslawien. Sie weckten bei vielen Menschen wieder alte, beiseitegeschobene Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg und erzeugten neue Ängste.
  • Ähnliches kam hoch nach dem 11. September 2001 und weiterhin durch den zunehmenden Terror in der Welt, der 2016 schließlich selbst noch einen deutschen Weihnachtsmarkt in Berlin erreichte.
  • Die Finanzkrise von 2008 ging für Deutschland zwar glimpflich vorüber, aber alte Erfahrungen aus der Inflationskatastrophe von 1923 tauchten wieder auf.
  • Weiterhin von großer Bedeutung sind die Krisen-, Not- und Schreckenserfahrungen, mit denen viele der Millionen Migrantenfamilien ins Land kamen. Auch diese Erfahrungen gehören zum heutigen Deutschland, ebenso Erlebnisse des Ausgegrenztseins in der „neuen Heimat“.
  • Inzwischen schon weiter zurück in der Vergangenheit, aber noch vielfach wirksam: deutsche Teilung, Kalter Krieg, permanente Atomdrohung, in Ostdeutschland die Fortsetzung der diktatorischen Massenunterdrückung und im Westen ein manchmal fast ins Manische gehender Wiederaufbau mit dem Ziel: „Wir sind wieder wer!“
  • Ein großer Lichtblick war die Wende, aktiv errungen durch weite Teile der ostdeutschen Bevölkerung, mit riesiger Freude auf beiden Seiten – und dann mit tiefer Ernüchterung im Osten. Eine so rigorose Umstellung auf ein völlig anderes Wirtschafts- und Lebenssystem, das war nicht vorherzusehen gewesen.
  • Noch weiter zurück, aber mit vielen Spuren bis heute ist der Zweite Weltkrieg mit seinen vielen Millionen Toten, den traumatisierenden Erfahrungen in der Verfolgung, im Bombenkrieg, auf der Flucht, an der Front. Jahrzehntelang wurden diese Belastungen beiseitegeschoben. Das hat sich seit Längerem geändert, aber was ist trotzdem geblieben?[1]
  • Da sind die NS-Verbrechen, die so beispiellos dastehen in der Welt, eine Schuld, die bisher nur mangelhaft „aufgearbeitet“ ist. Besonders gilt das, wenn es konkret wird, also bezüglich der eigenen Vorfahren oder auch der eigenen Institution. Aus diesen Ausblendungen können diffuse Schuldgefühle noch über Generationen hinweg lähmend nachwirken oder Gewalttendenzen wieder hochkommen.
  • Und schließlich lassen sich sogar noch bis heute seelische Erschütterungen auffinden aus dem Ersten Weltkrieg und den schrecklichen Jahren danach.[2]

Psychologischer Einschub

In Deutschland ist einerseits das Gespür dafür gewachsen, dass solche Krisen und tiefen Erschütterungen, wie zuvor aufgeführt, nicht ohne Folgen bleiben, weder in den Seelen der Einzelnen noch bei ihren Nachkommen noch in der Gesellschaft insgesamt.

Schauen wir etwa in psychologischer Perspektive auf unsere Kindheit. Alle Menschen ohne jede Ausnahme haben Zeiten hinter sich, in denen sie ausgeliefert und sogar ohnmächtig waren. Am deutlichsten gilt das für die Babyzeit. Hier wechselten Zustände höchster Zufriedenheit, vielleicht sogar von „High-Sein“ abrupt mit Katastrophen- und Weltuntergangsstimmungen. Das geschah in einer Zeit, als Innen und Außen kaum geschieden waren, Körperliches und Seelisches ebenso. Die Eigenmittel zur Abhilfe bestanden in Weinen, Schreien und Strampeln. Die Affektzustände gingen schnell ins Grenzenlose.

Später im Leben, selbst noch im reifen Erwachsenenalter, können Anklänge an solche alten, längst „vergessenen“ Zustände diffus in uns hochkommen. Das geschieht regelhaft in persönlichen und kollektiven Krisenzeiten. Diese vermögen unsere über viele Jahre erworbenen Muster zu erschüttern, mit denen wir Ohnmacht und Ausgeliefertsein zu bannen suchten. (Ich spreche hier nicht von Regression, meine ja nicht ein direktes Zurückfallen in alte Zustände, sondern umgekehrt deren erneutes Wirksam-Werden, eine Kontamination der Gegenwart durch Vergangenes.)

Schlimm wird es, wenn das Heute allzu viel Ähnlichkeit mit dem „vergessenen“ Damals bekommt, objektiv oder auch nur im subjektiven Erleben. Ein typisches Beispiel ist dafür der Bezug zwischen Finanzkrise 2008 und der Hyperinflation von 1923, der sich nicht nur bei alten Menschen herstellte. Oder die Konfrontation mit heutigen Fluchtbewegungen rührt unter Umständen an tief gelagerte eigene oder familiäre Fluchterfahrungen. Solche Verknüpfungen zwischen Früher und Heute können, zumal wenn sie eher unbewusst bleiben, zu heftigen Auswirkungen führen, von psychosomatischen Störungen über Depressionen bis zu intensiven Hassgefühlen und am Ende aggressiven Handlungen. Das alles ist in der gegenwärtigen Multi-Krisen-Situation zu beobachten.

Die große Gefahr liegt darin, dass dann alte Zustände von Ohnmacht und Ausgeliefertsein nicht im Früheren verortet, sondern im Heutigen wiederbelebt und mit falschen Mitteln bekämpft werden.

Umgehen mit harten Zeiten: zweiter Teil

Jetzt geht es um eine diametral andere Art des „Umgehens“: Wir können mit etwas umgehen, können es meistern, können uns danach sogar gestärkt fühlen. Umgehen also als aktives Handeln.

Wie schon angedeutet: Dazu hatten wir selbst in unserer Babyzeit Mittel zur Verfügung: Weinen, Schreien, Strampeln, etc. Wenn dann Abhilfe kam, hat uns das ungemein gestärkt im Vertrauen in unsere eigenen Kräfte und in die Welt – beides noch sehr ineinander gehend.

Seit damals lernen wir immer wieder neu, mit Krisen aktiv umzugehen im Sinne davon, sie zu meistern, über sie hinwegzukommen, Neues aufzunehmen, aktiv zu sein, Zuversicht zu entwickeln zu uns und zum Leben.

Es wäre Schwarzmalerei, zu behaupten, solch eine zuversichtliche Grundstimmung sei im heutigen Deutschland verloren[GC(1] [JM2] . Aber sie als angeknackst zu betrachten, ist wohl nicht übertrieben.

Was ist in psychologischer Sicht heute wichtig?

  1. Aktive Bemeisterung, das steht an erster Stelle. Menschen brauchen es, sich einigermaßen als Gestalter und Gestalterinnen ihres Lebens zu fühlen. Das hilft entscheidend, um Gespenster aus der individuellen und kollektiven Vergangenheit im Zaum zu halten und in den Krisen von heute nicht den Kopf zu verlieren. Ob jemand beispielsweise im Beruf den Eindruck hat, etwas Wichtiges zu bewirken, kann Zuversicht vermitteln, die auch in andere Lebensbereiche ausstrahlt.
  2. Sich gesehen zu fühlen: Dieser Wunsch nimmt seit Längerem gesellschaftsweit zu. „Resonanz“ ist hier das Stichwort. Der Soziologe Harmut Rosa hat dazu vor einigen Jahren ein wichtiges Buch vorgelegt.[3] Bezogen auf das Baby bedeutet dies: Es spürt, dass seine Aktivität, sein Weinen oder Strampeln erwidert werden, Wirkung haben, also eine Resonanz folgt. (Um Missverständnisse zu vermeiden: Natürlich sind wir Erwachsene und keine Babys – aber es steckt mehr von damals in uns, als wir gemeinhin wahrhaben.) In meiner Arbeit an einer Münchener Erziehungsberatungsstelle wurde das ein immer wichtigeres Thema für die Klientenfamilien.
  3. Der Mensch ist ausgelegt darauf, sein Leben in Sinnzusammenhängen zu verorten (das steht bei dem Auschwitz-Überlebenden Viktor Frankl im Mittelpunkt seiner Sicht auf den Menschen und in der von ihm entwickelten Logotherapie). Es macht Sinn, was ich gerade unternehme, Sinn vielleicht nur für mich, vielleicht auch für andere. Sinn im Kleinen oder Großen. Zusammenhänge stellen sich her. Ich fühle mich eingefügt, bin Teil einer Gemeinschaft, faktisch und geistig.
  4. Wir brauchen Verlässlichkeit von den Personen, die uns leiten. Das reicht von den Eltern und der Krippenerzieherin bis zum Bundeskanzler. Bei Letzterem wird diesbezüglich zurzeit ein Mangel wahrgenommen, und das lässt seine Beliebtheit in den Keller rutschen trotz aller seiner Aktivitäten (siehe die aktuellen Werte bei der ARD-Sonntagsfrage und dem ZDF-Politbarometer).
  5. Jürgen Habermas hat schon vor fast vierzig Jahren von der „Neuen Unübersichtlichkeit“ gesprochen.[4] Die hat für viele Menschen seitdem noch enorm zugenommen. Geredet wird viel. Aber wie sieht es mit einer Orientierung aus, die Unübersichtlichkeit und daraus resultierende Unsicherheiten berücksichtigt, ohne in ein Schwarz-Weiß-Schema zurückzufallen?

Der israelische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky hat das Konzept der „Salutogenese“ entwickelt, das in diesen Zusammenhängen noch einiges erhellen kann.[5] Er kam dazu bei der Auswertung einer Studie, ob Beschwerden in den Wechseljahren durch seelischen Stress aus länger zurückliegender Zeit mitbedingt sind. Was lag in Israel näher, als dafür zwei Gruppen von Frauen zu vergleichen, von denen die einen Shoah-Überlebende waren und die anderen nicht. Das Ergebnis fiel aus wie erwartet: Die Ersteren wiesen ein höheres Maß an akuten Störungen auf. 

Doch dann richtete Antonovsky einen genaueren Blick auf jene dreißig Prozent der ehemals Verfolgten, bei denen sich kein erhöhtes Störungsmaß feststellen ließ. Wie hatten sie die Hölle ihrer Vergangenheit so hinter sich lassen können, dass jedenfalls die Forschungsinstrumente keine Beeinträchtigung im Zusammenhang mit dem Klimakterium anzeigten? Was hat sie so gesund sein lassen?

Antonovsky erklärte das nicht mit „Resilienz“ (ein ebenfalls wichtiges Konzept), sondern sprach von Salutogenese, also dem Werden und Aufrechterhalten von Gesundheit, dies gegenübergestellt der bekannten Pathogenese, d.h. Krankheitsentstehung.

Zentral für sein Konzept wurde der „Kohärenzsinn“, der Zusammenhalt des Selbst. Als Unterdimensionen beschrieb er „Verstehbarkeit“, „Handhabbarkeit,“ „Bedeutsamkeit“. Hier geht es um Sinn, um Verstehen-können und, in unserem Zusammenhang besonders wichtig, um Handeln-können, Aktiv-sein, Wirkung haben, die mittlerweile oft genannte „Selbstwirksamkeit“.

Was tun? Zum Beispiel

  1. Angesichts der Häufung von Schreckensberichten schalten vermehrt Menschen Nachrichtensendungen im Fernsehen nicht mehr an. Viele haben dann ein schlechtes Gewissen. Hier hilft es, sich genau zu überlegen: Diesen Bildern des Schreckens bin ich ja passiv ausgeliefert. Ab wann wird das für mich zu viel? Ich möchte etwas tun, hier kann ich es nicht. Aber wie dann? Ein einigermaßen erträgliches Gleichgewicht gilt es immer wieder herzustellen. Eine kreative Balance zwischen Aushalten und Aktivität. Es kann also manchmal Sinn machen, die Nachrichten im Fernsehen nicht zu sehen, sondern auf Zeitungslektüre auszuweichen, bei der sich aktiv auswählen lässt.
  2. Vielleicht noch wichtiger sind Bewegungen in die andere Richtung: aktiv etwas tun, sich beteiligen an Aktivitäten anderer, sich einbringen in gesellschaftliche, politische, soziale Aktivitäten, die sich wirklich den hier angesprochenen Themen widmen und nicht im Gegenteil auf Zerstörung ausgerichtet sind.
  3. Die Bedeutung der Resonanz als Verarbeitungstechnik zeigt sich negativ in einem Beispiel aus dem Schulalltag: Es wird ein Film gezeigt über eine schlimme Krankheit. Dann läutet die Glocke, ein Gespräch findet nicht mehr statt. Auch später nicht – der Stundenplan „verbietet“ es. Hier liegt ein eklatanter Mangel an Resonanz vor. Die wäre an solchen Stellen noch wichtiger als die bloße Information. Beides gehört zusammen. Ähnliches gilt für die vielen Schulklassen, die jedes Jahr KZ-Gedenkstätten wie die von Dachau besuchen. Anscheinend sind hier sowohl in der Vor- als auch der Nachbereitung oft große Mängel zu verzeichnen. Umgekehrt gibt es hervorragende Erfahrungen für ein großes Mitgehen der Jugendlichen, wenn ihnen gute Gesprächsmöglichkeiten geboten werden.
  4. Relevant ist auch die Mitbestimmung in den Strukturen, in denen wir leben – von der Familie über die Schule bis zur Arbeitsstelle und der Politik. Gemeint ist eine Mitbestimmung, die mehr ist als ein bloßes Mitwirken-Dürfen in vorgegebenen Bahnen. Es gibt ja so manches Bemühen in dieser Richtung, etwa in den Schulen oder bei Demokratieforen, aber reicht es einigermaßen? Es gibt so viel an frei herumwabernder Wut, die sich an irgendwelche Anlässe und mal wieder bevorzugt an Sündenböcke heftet. Der Gedanke liegt nahe, dass es sich hier um eine „Ersatz-Einwirkungsmöglichkeit“ handelt.
  5. Befindlichkeiten dürfen Platz haben, nicht nur die „Sachzwänge“. Aber da braucht es Interesse, begreifen zu wollen, was in den „Gefühlen“ an wichtigen Botschaften steckt.
  6. Dialog statt Trauma.[6] Für meine Frau und mich ist dies nach vierzig Jahren Erforschung seelischer Nachwirkungen von NS-Zeit und Krieg sozusagen das Fazit. Auf den verschiedensten Ebenen, von der Familie bis zur Weltpolitik, ohne illusionäre Verkennung harter Wirklichkeiten, aber dennoch: Dialog immer wieder neu zu wagen, das sehen wir als die große Aufgabe für Gegenwart und Zukunft.

[1] Umfassend habe ich dies 1988 und in neuer Fassung 2005 dargestellt in dem Buch: Verleugnet, verdrängt, verschwiegen. München 2005.
[2]  Meeting in No Man’s Land. Hg. v. d. Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit.  München 2023.
[3] Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2019.
[4] Jürgen Habermas: Die neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt am Main 1985.
[5] Aaron Antonovsky: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen 1997.
[6] Jürgen und Ingeborg Müller-Hohagen: Dialog statt Trauma. Hamburg 2021.


Dieser Text war von einer Fachzeitschrift erbeten werden. Es kam aber nicht zur abschließenden Übereinkunft. So war es dann besser, ihn hier in nochmals überarbeiteter Form zu veröffentlichen.