Karin Weimann: Sisyphos’ Erbe – Von der Möglichkeit schulischen Gedenkens

Rezension von Jürgen Müller-Hohagen

Berlin, Lichtig Verlag, 2013

Um sofort das Wichtigste zu sagen: Ich empfehle dieses Buch dringend und uneingeschränkt. Ganz besonders gilt dies in Richtung von Lehrerinnen und Lehrern, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu tun haben. Aber auch sonst ist es ein wichtiger Lesestoff für möglichst viele Menschen in Deutschland.

Nur: Wie ist diese Botschaft zu vermitteln angesichts der Tatsache, dass es sich um ein Buch von geschlagenen 623 Seiten handelt? Wer soll das alles lesen? Und dann noch ein Titel, der erst einmal zurückzucken lässt: Sisyphos. Das klingt anstrengend und hört sich nach ziemlich viel erfolgloser Arbeit an. Und das in einer Zeit, in der schneller Erfolg fast alles ist. Sisyphos, das war doch damals bei den alten Griechen dieser Mann mit dem Stein, den er immer wieder sinnlos den Berg hoch schleppte, der damit einfach nicht aufhören konnte? Was soll das heute? Wir haben doch anderes zu tun! Also, was will die Autorin uns mit so einem Titel sagen?

Genau das. Es gibt Leute, die schleppen und schleppen. Und andere, die, wenn überhaupt, manchmal zuschauen. Die vielleicht einen Kommentar fallen lassen: Es ist doch allmählich genug, das mit dem Stein. Den muss man auch mal hinter sich lassen können. Nach vorne schauen.

Daraus entsteht leicht eine intensive Dynamik. Die Schleppenden fühlen sich allein gelassen und unverstanden. Wir machen es doch auch für Euch, versuchen sie zu rufen. Die Zuschauenden zucken zusammen, hatten vielleicht bereits vorher ein schlechtes Gewissen, zumindest im Ansatz. Das trägt allerdings nicht unbedingt zur Verständigung bei, unter Umständen sogar im Gegenteil. Dann schimpfen sie auf die mit dem Stein. Und die wiederum igeln sich ein und schleppen weiter. Schwierig.

Wenn dieses Buch nun im Lichtig Verlag erschienen ist, der sich als Berlins jüdischen Verlag bezeichnet, ja, dann ist klar, um was es hier mit dem Stein geht: Das ist das jüdische Thema. Klar. Am Holocaust tragen sie schwer. Das verstehen wir anderen mittlerweile. Dann wird diese Karin Weimann also Jüdin sein? Was findet sich darüber?

Auf der Rückseite steht einiges zur Person, das allerdings nicht. Das „Wichtigste“ für die schnelle Orientierung fehlt. Also ein Blick in das Vorwort. „Das Buch ist eine Herausforderung. Eine Zumutung“, so beginnt auf Seite 9 die Einleitung von Szabine Adamek. Aha, eine Zumutung. Aber nichts Klares zur Identität der Autorin. Doch dann, in deren eigenem Vorwort kommt etwas auf Seite 15, allerdings ziemlich ungemütlich: „Das von uns angestrebte Gedenken ist Ausdruck unseres Willens, als Nachkommen einer schuldig gewordenen Gesellschaft in die VerANTWORTUNG zu gehen.“

Ich breche den möglichen inneren Monolog, der sich beim Betrachten dieses Buches einstellen könnte, hier ab. Mit ihm habe ich ein wenig von dem in Worte zu bringen versucht, was nach so manchen Erfahrungen – auch mit mir selber – in uns Nachkommen der ehemaligen Volksgenossen untergründig ablaufen kann, wenn wir in einer eigentümlichen Mischung von Wahrheitssuche und Verfälschung meinen, es mit „dem jüdischen Thema“ zu tun zu haben. Mir selber ist verschiedentlich von wohlmeinenden Leuten Anerkennung gezollt worden, dass ich mich seit so langer Zeit, mittlerweile sind es dreißig Jahre, mit diesem „jüdischen Thema“ befassen würde. Und sicherlich wäre ich auch schon oft in Israel gewesen. Dem stelle ich dann „das deutsche Thema“ gegenüber, die Beteiligung unserer Vorfahren am Massenmord – und dessen vielfältige Wirkungen bis zu uns Nachkommen von heute. Beide Themen müssen getrennt gesehen werden, hängen aber untrennbar zusammen.

Genau darum geht es in diesem Buch. Weil aber nach meiner Erfahrung so viele von uns weite Bögen darum machen, werbe ich eindringlich: Schlagen Sie das Buch auf, irgendwo, niemand zwingt Sie, es von vorne bis hinten zu lesen, fangen Sie vielleicht im Anhang an, blättern es quer durch, und ich bin sicher, da wird Sie etwas erreichen von der hier versammelten großen Vielfalt an klaren Aktionen und Einsichten.

Dass es um Gedenken geht im Rahmen einer Schule, der Ruth-Cohn-Fachoberschule und -Fachschule in Berlin, das erhellt sich schnell, findet sich ja auch im Untertitel. Aber was seit 1997 da alles stattgefunden hat jeweils am 27. Januar, das ist atemberaubend. Dokumentiert ist der Zeitraum bis 2010, und es geht weiter. So viele Gespräche mit Überlebenden, Angehörigen, Engagierten, so viele Gastgeberinnen und Gastgeber dafür, so viele Ansprachen fern aller Floskeln und Rituale. Und so gute Erläuterungen und Literaturangaben, die hilfreich sind, um mehr in „diese Themen“ hineinzukommen – und um wahrzunehmen, dass eine ganze Menge von Leuten sich damit schon seit längerem befassen. Nur findet das im allgemeinen Bewusstsein immer noch nicht den entsprechenden Niederschlag.

Das andere Zentrum sind die Analysen, die Karin Weimann vornimmt. Da geht es um Bewahren von Erinnerung, um Wahrnehmen, wie schwierige Realitäten weiterhin durch Sprache verschleiert werden, es wird dargelegt, dass Moral bis heute massiv attackiert ist durch die NS-Verbrechen, blinde Flecken werden benannt, „Gewusstlosigkeit“ bewusst gemacht, verschiedene, dabei auch sehr subtile Formen des Verweigerns von Auseinandersetzung mit der Verbrechensvergangenheit und ihren vielfältigen Wirkungen analysiert (besonders lesenswert für NS-Nachgeborene, denen Selbstreflexion wirklich etwas bedeutet). Sehr wichtig ist dabei, was Weimann über „Komplementarität“ zwischen der Täter- und der Opferseite schreibt. Damit meint sie die nun einmal durch die Verbrechen gegebene unaufhebbare Verknüpfung der beiden Seiten, dies auch noch bei den Nachkommen. Hier besteht erst recht die Verpflichtung für die Nachkommen aus dem Täterkollektiv, dies überhaupt wahrzunehmen. Denn mit anderen Worten: Das Verweisen auf „das jüdische Thema“, von dem ich weiter oben etwas flapsig, aber leider in realistischer Einschätzung landläufiger Denkmuster gesprochen habe, lenkt ab von der Wahrnehmung „unseres deutschen Themas“. Erst wenn auch letzteres erfolgt, können wir mit der anderen Seite wirklich in Kontakt kommen, können wir gemeinsam Wege suchen und finden.

Genau das ist es, was dieses Buch dokumentiert und zur Nachahmung anbietet.

Und so schlage ich Folgendes vor: Schulen mögen einen ganzen Klassensatz oder noch mehr dieses (mit 21,50 € zudem sehr preiswerten) Buches anschaffen, zuerst einmal das Kollegium darin so herumlesen lassen, wie ich das oben angeregt habe, aus der daraus entstehenden, durchaus auch kontroversen Diskussion ein Projekt entwickeln (auch dafür gibt es viele Anregungen) und dann den Schülerinnen und Schülern einen Raum eröffnen, was sie mit den 623 Seiten anfangen möchten. Da bietet sich so viel an, so viele Stimmen können lebendig werden, Ideen ausgetauscht werden, neue Verbindungen entstehen. Da mag ein nie wieder zu vergessender Zugang entstehen zu dem für Karin Weimann so wichtigen jüdischen Widerstandskämpfer Jean Améry und dessen klarsichtigen Texten. Oder der algerisch-französische Schriftsteller Albert Camus kommt mit seinen philosophischen Reflexionen ganz nah – und dabei auch der alte Sisyphos-Mythos, dem er ein Buch widmete und den er in neuer Weise interpretierte: Sisyphos als Verfluchten, in dessen Macht es nicht lag aufzuhören, der sich dann aber entschieden hat, seinen Stein zu bejahen. Oder man ist beim Durchblättern der Veranstaltungen zum ersten Mal darauf gestoßen, dass Jehovas Zeugen, die man bisher nur belächelt hat, damals verfolgt wurden, und möchte mehr darüber wissen. Oder Homosexuelle. Oder die Millionen sowjetische Kriegsgefangene, die ermordet wurden. Und und und. So viele wurden verfolgt.

Also kein von oben verordnetes und gestaltetes Gedenken, sondern Spurensuche in Eigeninitiative. Dafür bietet dieses Buch reiche Hilfestellungen.

Das Gleiche gilt natürlich auch für die Lektüre im stillen Kämmerlein. Da kann viel an Nachdenklichkeit entstehen in uns Nachgeborenen der seinerzeitigen Volksgenossen und viel Stoff gewonnen werden für Weiterentwicklungen, können Blockierungen abgebaut, neue Beziehungs- und Freiheitsräume gefunden werden.

Und für ehemals Verfolgte und ihre Nachkommen kann es etwas Erleichterndes haben, von diesen Aktivitäten zu hören.

Und für alle zusammen: Das Buch enthält so viele Brücken, ist selbst eine Brücke.

Großer Dank an Sisyphos.

Weitere Informationen unter www.lichtig-verlag.de/03-buecher.htm#Sisyphos