Lernen ohne Druck und Angst – essentiell für eine zeitgemäße Schule
Ingeborg Müller-Hohagen
Vortrag auf der Tagung der Universität Danzig: (Re)thinking School
25. – 26. 9. 2015
Da stellt sich die Frage:
Lernen in Freiheit – geht denn das?
Lernen ohne von außen auferlegten Druck und ohne Angst vor den Erwachsenen – ist das nicht eine Illusion?
Meiner Meinung nach gibt es für das Lernen zwei grundverschiedene Wege.
Eine Möglichkeit:
Ich forciere es,
- dass mein Kind im Alter von einem Jahr spricht,
- dass es im Alter von 13 Monaten läuft,
- dass es im Alter von zwei Jahren sauber ist,
- dass es im Kindergarten schon alle Buchstaben lernt,
- dass es in der 1. Klasse bis Weihnachten schon flüssig lesen kann,
- dass es zu Ende der 4. Klasse den Sprung auf das Gymnasium schafft,
- dass es, dass es…….
- dass es im Alter von 18 Jahren die Hochschulreife erlangt….
Eine andere Möglichkeit:
- Prozesshaftes Begleiten bis zum ersten Sprechen,
- Begleiten bis zum ersten Laufen,
- geduldiges Begleiten bis zum ersten Saubersein,
- Begleiten, bis es von sich aus lesen lernt,
- Begleiten, bis es von sich aus schreiben lernt,
- gelassenes Beobachten, ob es mit zehn Jahren für ein Gymnasium geeignet ist und schon Lust
- auf kognitives Lernen hat,
- kontinuierliches Beobachten, ob es motiviert und von den Fähigkeiten her geeignet ist,
- den oder jenen Schulabschluss zu machen – vielleicht sogar die Möglichkeit, auf die Universität
- zu gehen.
Bei der ersten Möglichkeit geschieht die Zielsetzung von außen, von den Erwachsenen, den Eltern, den Lehrerinnen und Lehrern her – und damit ist dieser Weg für das Kind unausweichlich mit auferlegtem Druck behaftet. Das ist Druck von den Erwachsenen auf das Kind oder den Jugendlichen, Druck aber auch vom Kind auf sich selbst, da es den von den Erwachsenen intendierten Wünschen entsprechen möchte. Es liebt seine Eltern, mag seine Lehrer. Es möchte ihnen gefallen. Dieser Erziehungsweg ist geprägt von ständigem Reden, Ermahnen, unter Umständen von Drohungen. Er geht oft einher mit viel Angst:
- Angst auf Seiten der Eltern um den Lebensweg des eigenen Kindes,
- Angst der Lehrerinnen und Lehrer, den Ansprüchen der Eltern nicht zu genügen,
- und vor allem Angst des Kindes, den Eltern und Lehrern zu missfallen,
- Angst vor Versagen,
- Angst vor Fehlern,
- Angst vor Katastrophen…..
Bei der zweiten Möglichkeit dagegen kommt die bestimmende Zielsetzung von innen beim Kind,
beim Jugendlichen aus seiner Motivation heraus, aus einer von inneren Wissbegierde.
Das Konzept der Italienerin Maria Montessori
Dies ist der Weg, den Maria Montessori mit großer Eindringlichkeit dargelegt hat. Er bildet bis heute den Mittelpunkt der nach ihr benannten Pädagogik. Aus langjährigen Erfahrungen heraus möchte ich zeigen, dass er wirklich gangbar ist und keinesfalls eine Utopie darstellt.
Vielmehr bin ich überzeugt davon, dass für Kinder und Jugendliche dieser Weg des Begleitetwerdens bei ihrem Entwicklungs- und Lernprozess der ihnen gemäßere ist.
„Der Mensch muss sich seinem eigenen Rhythmus gemäß formen, disziplinieren und bilden können. Unser Ziel ist die Gesundheit der Psyche; und mit dieser Gesundheit entstehen in jedem normalen Kind soziale Haltung, freiwillige Disziplin, Gehorsam und Willensstärke.“ (Maria Montessori: Grundlagen meiner Pädagogik, 4. Auflage, 1968, Heidelberg)
Maria Montessoris Konzeption für den Lernprozess wird von der heutigen Hirnforschung bestätigt.
„Das Kind ist nicht ein leeres Gefäß, das wir mit unserem Wissen angefüllt haben und das uns so alles verdankt. Nein, das Kind ist der Baumeister des Menschen, und es gibt niemanden, der nicht von dem Kind, das er selbst einmal war, gebildet wurde.“ (Maria Montessori: „ Das kreative Kind“, 17. Auflage, Freiburg 2007)
Das Kind als „Baumeister des Menschen“ war damals zu ihrer Zeit DIE Sensation in der Pädagogik – und ist es bis heute!
Die Hirnforschung spricht zurzeit eher von „Potentialen“, mit denen das Kind geboren wird – so wie Professor Gerald Hüther aus Göttingen, Professor Manfred Spitzer aus Ulm oder Professor André Zimpel aus Hamburg. Doch eigentlich ist das Bild vom Baumeister viel plastischer, viel zutreffender – und zugleich auch von herausfordernder Radikalität. Es stellt das bis heute weiterhin gängige Menschenbild in Frage, nach dem das Kind immer noch in erster Linie von außen, von den Erwachsenen „gebildet“ werden soll. Auch in Deutschland gibt es noch Schulen, die sich diesem Menschenbild verpflichtet fühlen. Montessoris Aussagen wirken da weiterhin revolutionär.
Zu diesen kühnen Feststellungen kam Montessori entscheidend durch ganz konkrete Beobachtungen von Kindern, die sie mit dem geübten Auge der Ärztin und wachem Geist vornahm.
Hier stellte sie immer wieder fest, wie sehr der Entwicklungs- und Lernprozess des Menschen durch eine innere Uhr bestimmt ist.
Dieser Entwicklungsprozess verläuft nach Montessori in sogenannten sensiblen Phasen. Es handelt sich dabei um besondere Empfänglichkeitszeiten für bestimmte Inhalte. Sie sind von vorübergehender Dauer und ermöglichen dem Kind das leichte Erwerben von bestimmten Fähigkeiten.Wird dem Kind dies verwehrt, kommt es zu Entwicklungsstörungen, die sich später nur noch schwer, unter Umständen überhaupt nicht mehr überwinden lassen.
Zum Beispiel Annette
Das folgende Beispiel aus meiner Schulpraxis zeigt, wie stark das Bedürfnis, Baumeister zu sein, auch bei älteren Kindern und Jugendlichen noch sein kann und wie die sensiblen Phasen in der
Schule beachtet werden müssen.
Annette war ein Kind, das in der Grundschule trotz nachgewiesener hoher Intelligenz versagt hatte.
Besonders im Bereich Sprache zeigte sie große Schwierigkeiten – in Sprachgestaltung und Rechtschreibung. Zuweilen stotterte sie. Schulangst zeichnete ihren Weg: Angst vor Tests, vor Druck, vor der Versetzung, Angst vor jedem neuen Tag. Ihre zwei älteren Geschwister besuchten bereits das Gymnasium, was für die Eltern – beide Akademiker – völlig selbstverständlich war. Umso alarmierter waren sie angesichts Annettes unerklärlichem Schulversagen.
Durch Freunde hatten sie von der Montessorischule gehört und meldeten nach langem Ringen schließlich ihre Tochter für die 5. Klasse in der Sekundarstufe an.
Annette, die langjährige Schulversagerin, stürzte sich vom ersten Tag an auf die Montessori- Materialien zur Mathematik, die sie faszinierten und an denen sie konzentriert arbeitete. Ihre Augen leuchteten, und in den Pausen nahm sie ganz ungezwungen Kontakt zu ihren Mitschülern auf.
Für mich als Lehrerin war es eine Freude, ihr zuzusehen, und mit entsprechender Gelassenheit ging ich nach zwei Wochen in das erste Elterngespräch.
Es war fast ein Schock für mich, wie die Eltern, beide sehr sympathische Personen, auf meine Beobachtungen reagierten: Mathematik, ja, das hätte sie doch immer einigermaßen brauchbar gekonnt, aber Sprache, DAS sei ihr Problem, daran müsse sie endlich einmal richtig arbeiten. Man dürfe doch nicht zulassen, dass sie dermaßen ausweiche.
Hätte ich nicht schon die verschiedensten Erfahrungen damit gemacht, dass die Entwicklungswege von Kindern oft anders verlaufen, als wir Erwachsenen es uns vorstellen, wäre ich sicherlich zutiefst verunsichert gewesen. So aber erklärte ich in Ruhe das Geheimnis der sensiblen Phasen, Phasen höchster Motivation für bestimmte Bereiche. Ich erläuterte ihnen, dass es sehr wichtig ist, ein entsprechendes Sich-Vertiefen zuzulassen, auch über längere Zeit. Die Eltern gingen ruhiger, aber nicht beruhigt.
Nach einiger Zeit wandte sich Annette Themen aus Geographie und Astronomie zu und schrieb schließlich mit einer Freundin ein ausführliches Referat über die Planeten. Sie schrieb – und merkte es nicht!
Und wieder beklagte sich die Mutter, diesmal während des Elternabends, über die angeblich mangelnden Lernfortschritte ihrer Tochter.
Erst viel später nahm sich Annette Aufgaben aus dem Bereich Grammatik und Rechtschreiben vor,
dann aber mit großer Freude und geradezu atemberaubendem Erfolg.
Als Annette in der 6. Klasse war und voll Lernbegeisterung arbeitete, wünschten die Eltern, ihre Tochter solle auf die Realschule wechseln, die damals noch mit der 7. Klasse begann. Es setzten dramatische Diskussionen in der Familie ein.
Annette löste die schwierige Situation auf ihre Weise. Dem Drängen der Eltern gab sie insoweit nach, dass sie sich zusammen mit ihrer engsten Freundin auf die Aufnahmeprüfung vorbereitete, diese auch durchführte – und diese mit ihrer Freundin bestand. Dann aber setzten beide Mädchen durch, dass sie weiterhin auf der Montessorischule bleiben konnten.
Sie hatten gemerkt, dass sie hier nach ihrem Rhythmus und Tempo in Ruhe ihre Entwicklung fortsetzen und eigene Lernstrategien entwickeln konnten. Sie schätzten das Vertrauen, das in sie gesetzt wurde, die Gelassenheit und die Freude am Lernen.
Schlüsselqualifikationen – entwickelt in der Schule ohne Druck und Angst
Diese benötigen Kinder und Jugendliche nicht nur in der Schule, sondern auch sonst in ihrem Leben, besonders in der Zeit nach der Schule.
Ich meine folgende Qualifikationen:
- Entscheidung für eine Arbeit
- Verantwortung für den eigenen Lernprozess übernehmen
- Entwicklung von Ausdauer und Konzentration
- Selbsteinschätzung von Stärken und Schwächen
- Rücksicht nehmen
- Sich an Regeln und Absprachen halten
- Verantwortungsbereitschaft für die Gemeinschaft
- Grenzen anerkennen
- Wünsche angemessen äußern
- Kritik ertragen können
- Im Team kooperativ arbeiten
- Arbeiten zu Ende führen
- Lösungsstrategien für Konflikte entwickeln
Unterstützung der PädagogInnen zum Entwickeln von Schlüsselqualifikationen
Das empathische Beobachten
Es ist nicht das „wertende“, „urteilende“, „aburteilende“ Beobachten gemeint, sondern ein Beobachten, das das Kind/den Jugendlichen belässt, wie er oder sie ist.
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul sagt in seinem Buch „Das kompetente Kind“, dass wir
„heute dem Kind auf eine andere Art und Weise begegnen. Mein Konzept ist, zu versuchen herauszufinden, wer das Kind ist und nicht zu erklären, warum es sich so verhält, wie Psychologen und Pädagogen es herkömmlich tun. Das ist der einzige Weg, eine Beziehung zum Kind herzustellen, die trägt.“ (Jesper Juul: „Das kompetente Kind“, Interview in „Mit Kindern wachsen“, Heft1/1998 )
Die Beobachtung ist ein absolutes MUSS in einer Schule, in der vom inneren Bauplan des Kindes ausgegangen wird, in der nämlich die Grundannahme besteht, dass das Kind eine schöpferische Kraft hat, die im Unterricht nur freigelegt, aber nicht geschaffen werden muss.
Beziehungen ermöglichen
Beziehungen zu haben ist ein Grundbedürfnis des Menschen, so wie Wärme, Angenommensein, Sicherheit, Glück. Wichtig für den Entwicklungs- und Lernprozess der Kinder und Jugendlichen ist,
dass diese Grundbedürfnisse erfüllt sind, dass alle Menschen in der Schule sich in freundlicher Form respektvoll und achtsam begegnen und vertrauensvoll miteinander umgehen. Wichtig ist,
dass die Schüler in ihrer Individualität gesehen werden, nicht lediglich als Gruppe oder Klasse.
Die Studie „Bildungserfahrungen an Montessorischulen – Empirische Studie zu Schulqualität und Lernerfahrungen“, die 2013 veröffentlicht wurde, berichtet, wie wichtig für Schüler und Schülerinnen der 15-jährigen Jahrgänge eine gute Beziehung zu ihren Lehrern und Lehrerinnen
ist. 83.0% der befragten Schüler an Montessorischulen in Bayern gaben an: „Wir haben ein vertrauensvolles Verhältnis zu unseren Lehrern“.
78,9% dieser Schüler gaben an: „Wenn uns etwas nicht gefällt, können wir offen mit unseren Lehrern darüber reden.“
77,8% meinten: „Unsere Lehrer nehmen unsere Probleme ernst.“
( Sylvia Liebenwein, Heiner Barz, Dirk Randoll: „ Bildungserfahrungen an Montessorischulen“, Springer Verlag, Wiesbaden 2013, Seite 120 )
Die Vorbereitete Umgebung
Grundvoraussetzung für selbstbestimmtes Lernen, für die Entwicklung von Schlüsselqualifikationen ist es nach Montessori und auch nach meinen Erfahrungen, eine Vorbereitete Umgebung zu schaffen und diese kontinuierlich auf die Lernbedürfnisse der Kinder und Jugendlichen abzustimmen. Dazu gehören die Strukturierung des Klassenraumes in Bereiche der Arbeit und des Gesprächs, in den Regalen die übersichtliche Anordnung von verschiedenartigen Arbeitsmaterialien, die Auswahl von Büchern, die Anordnung von Montessori-Material.
Zur Vorbereiteten Umgebung gehört aber auch die angenehme Atmosphäre in der Schule und im Klassenraum, die Ermöglichung von Konzentration, von Stille und der Freude am Tun.
Am wichtigsten ist aber ist die innere Haltung der PädagogInnen. Montessori drückte es so aus: „Immer muss die Haltung des Lehrers die der Liebe bleiben. Dem Kind gehört der erste Platz, und der Lehrer folgt ihm und unterstützt es. Er muss auf seine eigene Aktivität zugunsten des Kindes verzichten. Er muss passiv werden, damit das Kind aktiv werden kann.“ ( Maria Montessori: „Kinder sind anders“, dtv München 1992, Seite153)
Das Kontrollbedürfnis von PädagogInnen ist auch heute noch in Schulen verbreitet und es bedarf intensiver Arbeit an sich selbst, von dieser Haltung wegzukommen und sich als Beobachter, Helfer
und Berater des Kindes/des Jugendlichen zu verstehen. Ich habe diesen „Umstieg“, wie ich es nenne, selbst erlebt und habe dafür einiges an Zeit gebraucht.
Dabei habe ich bemerkt, dass meine Schüler und Schülerinnen erst dann zu selbstorganisiertem Lernen finden konnten, wenn ich gelassen blieb, sie ihre eigene Wahl der Arbeit treffen ließ, aber für Fragen bereitstand.
Die freie Wahl der Arbeit
Freiarbeit, dieser Begriff hat sich in Deutschland durchgesetzt, ist das Herzstück der Montessori- Praxis, es sollte meiner Meinung nach das Herzstück jeder Schule sein. Wenn ich als Pädagogin
in meiner Arbeit in der Schule den Schülern eine freie Wahl der Inhalte ermöglichte, fanden diese
viel leichter zu einer selbstorganisierten Arbeit, war Lernen nachhaltig.
Freiarbeit bedeutet:
- Freie Wahl der Fachbereiche und der Inhalte
- Eigene Wahl der Arbeitsmittel und Materialien
- Individuelles Lerntempo
- Frei gewählte Sozialform (Einzel-, Partner-, Gruppenarbeit)
- Genaue Dokumentation der geleisteten Arbeit (Tagebuch, Portfolio, Studienbuch) auf Seiten der Kinder/der Jugendlichen und der PädagogInnen, um den Überblick über den Lernfortschritt zu behalten.
Zum Beispiel Harald
Harald musste in der 6. Klasse die bisherige Realschule verlassen wegen seiner aggressiven Handlungen, seiner Unlust und Rücksichtslosigkeit, seiner totalen Verweigerung schulischer Arbeiten. Seine Mutter war auf die Montessorischule aufmerksam geworden.
Widerwillig und mürrisch erschien er zu der Hospitation.
Dann aber, beim Eintreten in den Klassenraum, überzog ungläubiges Staunen sein Gesicht: „Was,
das hier soll eine Schule sein? Das sieht ja aus wie in einem Wohnzimmer!“
Nach den drei Tagen Hospitierens sagte ich ihm, dass eine Aufnahme in meine Klasse nur dann Sinn hätte, wenn er die Entscheidung träfe zu arbeiten. Die Verantwortung für sein Lernen müsse er übernehmen, weder seine Mutter noch ich könnten ihm das abnehmen. Er blickte mich mit großen kindlichen Augen an, die in eigenartigem Kontrast zu seinem coolen Outfit standen.
Er selbst verantwortlich für sich? Das war ihm fremd. Er war es gewohnt, dass die Erwachsenen ihm sagten, was er zu lernen hatte. Es war für ihn selbstverständlich, dass alle Schülerinnen und Schüler der Klasse zu gleicher Zeit im gleichen Tempo den gleichen Stoff zu bearbeiten hatten – und dagegen hat er rebelliert.
Harald konnte es nicht fassen, dass es soviel Freiheit gab – aber auch, dass nicht alles im Chaos versank. Er beobachtete erst einmal mit Staunen, wie seine Mitschüler sich im Raum frei bewegten, wie intensiv sie arbeiteten, wie sie sich konzentrierten, diskutierten, sich bei mir Rat holten und zwischendurch einen Tee kochten.
Er merkte, es ging um ihn. Es kam auf ihn an, auf niemanden sonst.
Er spürte, Freiheit bedeutet Entwicklung, Arbeit an sich selbst.
Er verstand, Freiheit ist nicht Chaos, nicht Laufenlassen, nicht Nichtstun.
Nicht das Wohnzimmer als solches war das Entscheidende, sondern was sich dort entdecken und machen ließ.
In der 9. Klasse zeigte sich seine unglaubliche Kreativität: Bei der Arbeit an einem Theaterstück über Zukunftsängste von Jugendlichen, das wir alle gemeinsam aus persönlichen Einfällen, Improvisationen und Diskussionen in einem lebendigen Prozess entwickelten. Bei der öffentlichen Aufführung in einem Münchner Theater trat er mit Bravour als einer der Hauptdarsteller auf und genoss den brausenden Beifall.
Die staatliche Abschlussprüfung bestand er mit Leichtigkeit.
Grenzen beachten
Die Freiheit der freien Arbeit ist nicht grenzenlos, es herrscht kein Laissez-faire. Grenzen ergeben sich aus der Rücksicht auf andere Menschen. Ich kann nicht grenzenlos alles das tun, wonach mir am meisten zumute ist und wodurch ich meine eigene Entwicklung oder die anderer behindere.
Grenzen werden traditionell oft als Verbote, Hinweise oder Verwarnungen aufgefasst, nicht als Möglichkeit, das Recht und die Würde des anderen Menschen, des Kindes, des Jugendlichen, des
Erwachsenen zu achten und zu respektieren. Es ist wichtig, dem Hilfsbedürfnis der Erwachsenen
Grenzen zu setzen, nämlich dem Kind nicht alles abzunehmen, was schwierig ist und Überwindung kostet, denn dies würde Initiative und Kreativität unterdrücken.
Grenzen entstehen durch das Achten der Bedürfnisse unserer Mitmenschen.Sie bilden sich in der
wechselseitigen Begegnung. Viele Erwachsene, Eltern wie Lehrer, haben heute eher Angst, Grenzen zu setzen. Damit erschweren sie es den Kindern und Jugendlichen, Halt zu fühlen, Sicherheit, Geborgenheit. Sie lassen diese allein.
Leistung ohne Druck und Angst?
Die „ Zeugnisse“ in der Schule verbreiten üblicherweise zweimal im Jahr Ängste und Sorgen. In der
Montessorischule sind sie Etappen der Reflexion über erreichte Ziele, die geleistete Arbeit und sind Anlässe zur Planung für Themenbereiche, die noch zu wenig bearbeitet wurden.
Zum Thema „Leistung“ gibt es in der Gesellschaft vielfältige und kontroverse Standpunkte. Was wir in der Montessoriszene vertreten, ist ein möglichst ganzheitlicher Leistungsbegriff, der die Fixierung auf kurzfristig verwertbare Ergebnisse überwindet.
Im Gemeinsamen Schulkonzept des Montessori-Landesverbandes Bayern heißt es:
„Leistung bezieht sich immer auf den einzelnen Menschen und muss die individuellen Gegebenheiten berücksichtigen.
Leistung ist immer eingebettet in den Prozess der konkreten Arbeit und ist in Verbindung mit dem jeweiligen Entwicklungsstand zu sehen.
Leistung kann sich nur entfalten, wenn Motivation und Lernbereitschaft gegeben und erarbeitet sind.
Leistung zählt nicht nur als Prozess und Ergebnis einer individuellen Arbeit, sondern auch als Prozess und Ergebnis einer Partner- oder Gruppenarbeit.
Leistung erfährt eine wesentliche Vertiefung durch die emotionale Verbundenheit mit der Arbeit.
Leistung wird nicht nur von außen, sondern in einem Prozess der Selbstkontrolle und Selbsteinschätzung von den Schülerinnen und Schülern selbst festgestellt und bewertet.
Leistung braucht Sinngebung und Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen.“ (Montessori-Landesverband Bayern: „Montessorischule – Eine Schule für alle. Das Gemeinsame Schulkonzept der Schulen im Montessori-Landesverband Bayern, München: 3. Auflage 2005, Seite 72).
„Informationen zum Entwicklungs- und Lernprozess“ sind keine „Zeugnisse“, die von PädagogInnen formuliert werden, sondern eine gemeinsame Arbeit von Kindern beziehungsweise Jugendlichen und PädagogInnen. Sie bestehen aus einem Worttext, meist als Brief formuliert, und einem kategorisierten System mit differenzierten Aussagen über den Stand der Leistungen in den einzelnen Fachgebieten und Aussagen zum Arbeits- und Sozialverhalten.
Die Kinder und Jugendlichen formulieren den Text zuerst und kreuzen auch zuerst im kategorisierten System ihren eingeschätzten Leistungsstand an. Im anschließenden Gespräch mit der jeweiligen Lehrkraft werden die beiderseitigen Einschätzungen verglichen und koordiniert. Hier zeigt sich oft, dass die SchülerInnen viel kritischer zu sich selbst sind als die PädagogInnen.
Wie können Schulen den Kindern und Jugendlichen helfen, ohne Druck und Angst gute Leistungen zustande zu bringen?
- Einmal dadurch, dass sie die intrinsische, die von innen kommende Motivation der Schülerinnen und Schüler beachten,
- außerdem durch die empathische Beobachtung der Kinder und ihrer Grundbedürfnisse, ihres Entwicklungsstandes, ihrer individuellen Situation,
- sowie durch das Schaffen einer angemessenen Vorbereiteten Umgebung (Material, Bücher, Haltung der Pädagogen als Prozessbegleiter und Möglichkeit der Freien Wahl der Arbeit).
Lernen ohne Druck und Angst – und Freude an der Arbeit, an der Leistung sind möglich!