Loyalitäten bei den Nachkommen von NS-Tätern
Jürgen Müller-Hohagen
Verschiedene Erfahrungen aus den seelischen Untergründen deutscher Nachkriegsgeschichte sprechen dafür, dass nicht nur in Einzelfällen Nazitäter in gewisser Weise weitergemacht haben nach 1945, und zwar besonders im “Schoß der Familie”. Welch brachiale Gewalt da angewandt wurde und wie sehr so etwas zu einer lebenslangen Verkettung der Nachkommen mit ihren Täter-Eltern führen kann, wird bisher kaum wahrgenommen.
Sich aus der gewaltinduzierten Loyalität zu befreien, ist möglich, aber es erfordert viel Mut und gute Unterstützung.
Die Loyalität zu den Eltern musste um so verzweifelter und umfassender gebildet werden, je mehr die Zugehörigkeit zur Familie in Frage stand, im Hintergrund also für den Fall der Unbotmäßigkeit letztlich eine tödliche Drohung lauerte.
Zugleich ist zu berücksichtigen, dass Loyalitäten sich nicht nur mittels direkter Gewaltausübung formierten, sondern noch auf vielen weiteren Wegen, von wirklicher Liebe bis hin zu Komplizenschaft gegenüber angeblichen Außenfeinden – auch hier also Widerstreite von Loyalitäten.
Es ist wichtig, Vernichtungsängste auf Seiten der Opfer des Nazi-Systems von ähnlich erscheinenden Ängsten bei Nachkommen aus dem Täterkollektiv zu unterscheiden. Diese sind als Todesängste zu bezeichnen.
Nur wenn dies klar differenziert wird, können Nachkommen des Täterkollektivs sich wirklich mit dem Vernichtungsanteil der Eltern und anderer Vorfahren auseinandersetzen und andererseits die eigene erlittene Gewalt benennen und öffentlich machen. Das ist ein Prozess, der erst langsam in Gang kommt.
In einem Ausmaß, wie es um 1900 der Sexualität galt, war in der Nachkriegszeit die Wahrnehmung konkreter Beteiligung von Familienangehörigen an der Nazi-Gewalt tabuisiert, und während sich dies allmählich ein wenig zu lockern scheint, kann die fortdauernde Loyalität der Nachkommen gegenüber den Nazi-Vorfahren nur gelegentlich verschlüsselt auftauchen, so etwa im Schutz des therapeutischen Raums, während der weitere gesellschaftliche Raum dafür noch kaum bereit steht.